: Zerstörte Identitäten junger Männer
Streit um die Pädagogik für Jungen: Verunsichert die Kritik an ihrer Männlichkeit die armen Jungs erst recht?
Welche Methoden in der Jungenpädagogik im Einzelnen so angewandt werden, interessiert die Öffentlichkeit in der Regel kaum. Identitätsorientiert oder emanzipatorisch oder vielleicht „balanciert“ – da gibt es ähnlich wie bei Psychotherapien verschiedene Ansätze. Eine der Richtungen hat nun die Öffentlichkeit aufgeschreckt: Die sogenannte „nicht identitäre“ Jungenarbeit eines Berliner Pädagogenvereins wolle die Identität der Jungs „zerstören“, legte der Spiegel kürzlich nahe. Er zitiert aus dem Protokoll einer Projektwoche, die der Verein „Dissens“ veranstaltet hatte. Tatsächlich schreiben die Leiter des Workshops, das Ziel ihrer Pädagogik sei „die Zerstörung von Identitäten“.
Das klingt alarmierend. Schon kursieren im Internet „Anmerkungen“ des Männerforschers und Soziologen Gerhard Amendt: „Wer Identitäten zerstört, der zerstört Menschen.“ Einem Jungen ist in dieser Projektwoche laut Protokoll nahe gelegt worden, er habe eine Scheide und tue nur so, als sei er ein Junge. Amendt findet das pädagogisch mehr als zweifelhaft. Der Junge, so Amendt, sollte offenbar „im Kern seiner Identität erschüttert werden, damit er gefügig wird. Die Gewaltförmigkeit des ‚pädagogischen Handelns‘ liegt auf der Hand.“
Männlichkeit auflösen
Ist das das Konzept von „Dissens“? Die PädagogInnen des Vereins wehren sich nach Kräften: Der Spiegel-Autor „versuche, emanzipatorische Männlichkeitsentwürfe zu diffamieren“, heißt es in einer Stellungnahme. „Uns geht es natürlich um die Stärkung von Identitäten“, sagte Geschäftsführerin Andrea von Marschall der taz. Aber wie kam es dann zu der Aussage, Ziel sei die Zerstörung der Identität?
„Das war missverständlich formuliert“, verteidigt sich Joachim Erath, der das Projekt seinerzeit mit leitete. Der Satz beziehe sich auf die theoretische Ebene: „Wir möchten starre Männlichkeiten, unter denen die Jungen oft sehr leiden, auflösen. Auch wenn du nicht die großen Muckies hast, kannst du trotzdem ein toller Typ sein, das soll den Jungs vermittelt werden“, beschreibt er das Vorgehen.
Diese „nicht-identitäre“ Jungenarbeit basiert auf dem theoretischen Konzept des Konstruktivismus. Die Geschlechterrolle, so lässt sich vereinfacht sagen, ist nicht fix, sondern wird in jeder Situation neu hergestellt: Durch Abgrenzung zum anderen Geschlecht und durch rollenkonformes Verhalten. „Doing Gender“ nennt die Theorie das. Ein Beispiel: Ein Junge, der weint, würde in seiner Clique als „schwul“ oder als „Mädchen“ gelten. Deshalb weint er nicht – und konstruiert sich damit als Junge.
Der hehre Vorsatz der nicht-identitären Pädagogik ist nun, dass die Jungen die Beliebigkeit solcher Zuschreibungen wie „Jungs weinen nicht“ erkennen. Sie sollen lernen, dass man auch Junge bleiben kann, wenn man weint. Oder eben, dass man den Jungen auch spielen kann, obwohl man biologisch betrachtet vielleicht ein Mädchen ist. Mit dieser Vorstellung hatten die Pädagogen die Jungen im Workshop provozieren wollen.
Männlichkeit fördern
Darf man das machen? Oder verwirrt man damit die ohnehin verunsicherten Jungs vollends? Das ist eine sehr grundsätzliche Frage, die an viele wunde Stellen rührt. Die Jungenarbeit hat sich im Gefolge der Mädchenarbeit entwickelt. Die aber kritisierte das dominante Verhalten der Jungs. Manche Pädagogin erwartet deshalb von der Jungenarbeit eine Art Pazifizierung der Rabauken. Einige JungenpädagogInnen folgen dieser Richtung und ermutigen Jungen, ihre „weiblichen Eigenschaften“ zu entwickeln. Andere aber wenden sich genau dagegen. Sie wollen den Jungen zu einer positiven Haltung zur Männlichkeit verhelfen, indem sie deren „männliche“ Bedürfnisse ernst nehmen.
Die meisten ProtagonistInnen der Jungenpädagogik beschreiten glücklicherweise einen Mittelweg. Reinhard Winter, Herausgeber des Überblickswerks „Praxis der Jungenarbeit“, beschreibt ihn so: Man könne dem Jugendlichen nicht eine neue Identität überhelfen und die seine auch nicht mal eben „zerstören“, sagte Pädagoge Winter der taz. „Die Jungen können lernen, wie sie Junge sein können, ohne andauernd an Grenzen zu stoßen: Grenzen der Beziehungsfähigkeit, Grenzen des sozialen Zusammenlebens – und auch Grenzen des Gesetzes“, so Winter. Den konstruktivistischen Ansatz hält er dabei für sinnvoll: „Die Jugendlichen lernen, dass sie ihre Identität situativ herstellen und deshalb auch situativ verändern können“, erklärt er. Das Herangehen von „Dissens“ sei deshalb erst einmal gut und auch seriös.
Der Verein selbst betont, das provokante Vorgehen der Pädagogen habe mit der Zielgruppe zu tun gehabt: Es seien keine labilen, problematischen Jungen gewesen, sondern die neunte Klasse einer Realschule. „Das waren stabile Personen, die die Provokation als solche verstanden haben“, sagt Andrea von Marschall. Ohnehin sei diese Art des Infragestellens von Identitäten nur eine von vielen unterschiedlichen Methoden des Vereins.
Pädagoge Winter hält die Aufregung um den Verein Dissens für unnötig: Man könne bei Schülern in einer kleinen Projektwoche ohnehin nichts zerstören. „Das viel größere Problem ist, dass sie in der Schule einer Dauerberieselung mit unreflektierten Geschlechterstereotypen ausgesetzt sind.“ Und diese können seiner Ansicht nach beide verbreiten: feministische LehrerInnen, die die Jungs pazifizieren wollen – genau wie Lehrer, die meinen, alle Jungs müssten Fußball lieben. Denn beides geht über die Bedürfnisse des Einzelnen hinweg. HEIDE OESTREICH