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Archiv-Artikel

Der geführte Blick

Eine Flagge wird gehisst, eine Fotografie geschossen, ein Propagandafeldzug gestartet. Clint Eastwoods „Flags of Our Fathers“ handelt vom Krieg auf einem entlegenen japanischen Eiland – und vor allem davon, wie Massenmedien Geschichte machen

Es war das „richtige“ Bild zur höchsten Zeit. Man benötigte dringend ein Signal, ein evidentes Zeichen der Hoffnung

von TOM HOLERT

Sobald es im gegenwärtigen Mainstreamfilm darum geht, die Ereignisse des 20. Jahrhunderts als durch Massenmedien gemachte Geschichte zu erzählen, dürfen die Projektionsapparaturen und Dolby-Surround-Anlagen in den Kinosälen besonders eindrucksvoll demonstrieren, was sie können. Ein schmatzend-splittriges Krachen ist die Geräuschikone, die Sounddesigner von ihren Festplatten hochladen, die die Wucht des öffentlichen Bildes zu Gespür bringen soll. Begleitet von gleißenden, computerberechneten Überbelichtungen des Leinwandbildes verweist dieses charakteristische Soundkonstrukt auf die unzähligen Momente um die Mitte des 20. Jahrhunderts, in denen in einem mit Sauerstoff gefüllten Glaskolben Batteriestrom an die Elektroden eines Magnesiumdrahts gelegt wurde und die daraufhin platzenden Blitzlampen der Kameras das Licht der Nachrichten, des Glamours und der Zeitgeschichte erzeugten.

Vor zwei Jahren feierte Martin Scorseses „Aviator“ eine solche krachige Blitzlichtorgie rund um die Figur des Flugpioniers und Film-Tycoons Howard Hughes. Heute spielt Clint Eastwood die Rolle des Flashlight-Historikers. In „Flags of Our Fathers“ zeigt der zum Autor-Regisseur gewandelte Actiondarsteller, wie eine visuelle Ikone des 20. Jahrhunderts entstand und wie mit ihr Weltgeschichte und ein propagandistisches Epos produziert wurden. Als der Associated-Press-Reporter Joe Rosenthal am 23. Februar 1945 fünf US-Marines und einen Navy-Sanitäter auf der japanischen Insel Iwo Jima fotografierte, als sie auf einem Hügel die Fahne der Vereinigten Staaten aufrichteten, brauchte er zwar kein Blitzlicht, denn die Szene trug sich am helllichten Tag zu. Doch im Prozess der Verbreitung und Vermarktung seines Fotos – einer beispiellosen Erfolgsgeschichte – kamen die explodierenden Blitzlampen reichlich zum Einsatz, das jedenfalls legt „Flags of Our Fathers“ nahe.

Sofort nach der Belichtung des Films in Rosenthals Kamera wurde das Foto an die Redaktionen der großen US-amerikanischen Tageszeitungen gekabelt und erschien zwei Tage nach seinem Entstehen auf den Titelseiten. Es war das „richtige“ Bild zur höchsten Zeit. Die Beteiligung am Zweiten Weltkrieg hatte die schon zuvor durch die Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre schwer angegriffenen US-amerikanischen Staatskassen endgültig geleert. Zugleich ließ die Kriegsunterstützung zu Hause nach. Man benötigte dringend ein Signal, ein evidentes Zeichen der Hoffnung. Da kam Rosenthals Bildkonzentrat des Triumphs der US-amerikanischen Truppen gerade recht.

Die Schlacht um Iwo Jima, einem unwirtlichen, schwarzsandigen Schwefel-Eiland im Westpazifik, sollte im Anschluss an das Hissen der Flagge noch Wochen andauern und enorme Verluste auf beiden Seiten verursachen. Aber die PR-Experten der Roosevelt-Regierung hatten die mobilisierende Energie des Fotos sofort erkannt. Und gerade der Umstand, dass das Foto höchstgradig inszeniert war, schien die Möglichkeiten, es zu instrumentalisieren, noch zu steigern.

Ein Kommandant der Marines hatte sich das Original gleich vor Ort als Souvenir aushändigen lassen, weshalb Ersatz hermusste. Der Fotograf erwischte deshalb den Moment, in dem die Soldaten, die die Fahne bereits ein zweites Mal hissten, ihm allesamt die Seite oder den Rücken zudrehten und zwei sogar weitgehend von ihren Kameraden verdeckt waren. Für einige Beobachter einfach ein „crappy picture“, für alle anderen das Bild einer gestalthaften Gruppe von lauter Unbekannten, die eines der bekanntesten Symbole der Welt in den Boden eines eroberten Landstücks rammen und damit selbst symbolkräftig wurden.

Drei überlebende Soldaten, die angeblich bei dieser Photo Opportunity zugegen waren, wurden an die Heimatfront beordert, um einen Werbefeldzug für Kriegsanleihen zu führen. Die militärischen Metaphern „Heimatfront“ und „Werbefeldzug“ passen auch deshalb, weil Eastwood das Kampfgeschehen auf der Pazifikinsel und die Auftritte des Trios in den Ballsälen und Sportarenen der Nation als Parallele konstruiert. Dem tödlichen Granatenbeschuss während der Schlacht auf schwarzem Vulkanfelsen entspricht die Wucht der Massenmedien daheim, verkörpert im Blitzlichtgewitter der Pressefotografen. Der Blitz der Reporter friert die „Helden von Iwo Jima“ in ihren öffentlichen Rollen ein, obwohl sich keiner von ihnen als ein Held sieht, dem es zusteht, vor zehntausenden von Zuschauern und den Wochenschaukameras die Szene seines Lebens als lebendes Denkmal nachzustellen, der Kriegsökonomie zuliebe.

In einer bisweilen arg verwirrenden Montage von Rück- und Vorblenden suchen Eastwood und der Drehbuchautor Paul Haggis („L. A. Crash“) nach einem Verfahren, die persönlichen Erinnerungen der drei durch die Kriegserlebnisse traumatisierten Heldendarsteller mit dem kollektiven Gedächtnis der Endphase des Zweiten Weltkriegs zu verschränken. Um die verschiedenen Zeitphasen, individuellen Perspektiven und divergierenden Raumwirklichkeiten voneinander abzugrenzen, werden unterschiedliche Ästhetiken (Kostümfilmambiente, TV-Doku-Atmosphäre oder Militärisch-Technoides) ineinander gefügt.

Eastwoods seltsam ausladend geratene Choreografie der Landung der amerikanischen Truppen auf der von Bunkern und Schießständen des Gegners übersäten japanischen Insel bedient sich aller Mittel, die in den Arsenalen aktueller Kriegsfilmtechnologie bereitliegen. Die apokalyptische Optik des Vulkangesteins geht dabei mit einer abstrahierenden Farbregie einher, die sich am Design von Computerspielen orientiert – inbegriffen einer Blickregie, die zwischen strategisch wertvollen Aufsichten des Schlachtgeländes, Handkamera-Subjektiven und der Perspektive der japanischen Verteidiger auf die US-Soldaten hin und her springt. Dann wieder werden Zeitzeugen 60 Jahre nach dem Ereignis befragt und erläutern die politischen und psychologischen Umstände des Helden-Marketings, während auf der nächsten narrativen Schicht einer der Beteiligten in der historischen Real-Fiktion des Filmes erklärt: „Ich denke, das Ganze ist eine Farce“, und ein anderer mit Blick auf die PR-Tournee hinzufügt, nach der Eroberung von Iwo Jima „müssen wir jetzt um einen Berg Bargeld kämpfen“.

„Flags of Our Fathers“ ist eine erstaunliche Untersuchung über öffentliche Bilderproduktion, die Sinnlosigkeit moderner Kriege, die Notwendigkeit der historischen Erinnerung, die Moral der Propaganda und die damals noch junge Celebrity-Ökonomie. Eastwood hat einen Film gedreht, der von der Fotografiekritik Susan Sontags, der Medientheorie Paul Virilios und den inszenierten Fotografien eines Jeff Wall ebenso inspiriert zu sein scheint wie vom Patriotismus eines Frank Capra oder von „Saving Private Ryan“, dem Weltkriegsfresko seines Produzenten Steven Spielberg.

Ausgerechnet mit den großkalibrigen Mitteln eines Hollywood-Historienschinkens diskutiert Eastwood die politische Leistungsfähigkeit von Fotografien, die Fabrikation von Fiktionen mit der Kamera, die mediale Herstellung von Geschichte. Der Film handelt sehr bewusst davon, dass historische Prozesse spätestens im Zeitalter der Massenmedien zu Prozessen der Blickführung geworden sind. Diese Blickführung hat einen gewalttätigen Kern, sie kann Leben beschädigen und zerstören, physisch wie psychisch.

Bei all dem rechnet „Flags of Our Fathers“ mit unterschiedlichen Zuschauergruppen und versorgt diese. Das versuchen gegenwärtig zwar manche Spielfilme, es gelingt aber eigentlich nur US-Fernsehserien. Eastwood handelt wie ein Serienautor; er hat die Freunde des Kriegsfilms im Visier, ebenso die Fans des History Channel. Seine Parade junger, attraktiver, kämpfender und leidender, sterbender oder überlebender Männerkörper berührt die Begehrensstruktur eines Publikums, in dem unterschiedliche sexuelle Orientierungen und Empathievoraussetzungen versammelt sind. Er offeriert eine Erzählung für die vom Krieg Enttäuschten und Entsetzten, aber berücksichtigt zugleich die Sorgen um die Ehre des Veteranentums. Genauso wie er einerseits die Mythe vom multiethnischen Melting Pot der Vereinigten Staaten ausbreitet, erhält die rassistische Wirklichkeit eine zentrale narrative Funktion, wenn einer der drei Soldaten, ein Native American, noch als Nationalheld erfahren muss, wie ihm in Chicago und anderswo der Zutritt zu Bars verweigert wird.

Mit Docu-Dramatik, spektakulärer Digital-Ästhetik, Generationenschnulze, bitterem Sozialrealismus und anderen ästhetisch-medialen Formaten zielt der Film auf eine Zuschauerschaft, die imstande ist, sich aus diesem stellenweise überkonstruierten und nach üblichen Gesichtspunkten von Spannung und Rollenpsychologie oft langweiligen Werk eine eigene, vom Autor letztlich unbeeinflussbare Erfahrung zusammenzusetzen.

Unter die Schluss-Credits legt Eastwood eine Auswahl historischer Originalfotografien, nach deren Vorbild er die Szenen seines Films komponiert hat. Damit verhilft er zu der erhellenden Erfahrung, dass nun alle Bildschichten derealisiert erscheinen. Die Fotos wirken plötzlich merkwürdig fiktiv, der Film hingegen nicht unbedingt realitätsferner als die Zeitdokumente. Wo die Wahrheit eines Bildes liegt, ist dank dieser filmischen Erzählung über ein Foto noch schwieriger zu beantworten als zuvor.

Und Eastwood lässt nicht locker. Er schraubt die Frage nach der Möglichkeit und der Notwendigkeit der audiovisuellen Rekonstruktion von Geschichte immer weiter in die historische und zudem transnationale Textur. Am 9. Dezember 2006 ist in Japan „Letters of Iwo Jima“ angelaufen, das Pendant zu „Flags of Our Fathers“ – von Clint Eastwood aus der Sicht der japanischen Kriegsteilnehmer gedreht. Auch dies: eine Art der Blickführung.

„Flags of Our Fathers“, Regie: Clint Eastwood. Mit Paul Walker, Jesse Bradford u. a., USA 2006, 131 Min.