Rivalen aus Tradition

ARGENTINIEN Das Größte wäre ein Finale gegen den Nachbarn Brasilien

AUS BUENOS AIRES JÜRGEN VOGT

Am Río de la Plata ist der Glaube an den Einzug der argentinischen Mannschaft ins Finale nicht weit verbreitet. Sollte es doch passieren, wird es kein Halten geben. „Ich habe schon drei Freunde und ein Auto organisiert“, sagt Leo, Sportlehrer an einer Behindertenschule in Buenos Aires. „Nach dem Abpfiff wird gefeiert und dann losgefahren.“

So wie Leo werden es vor dem Finale viele machen. Nach vorsichtigen Schätzungen der argentinischen Botschaft in Brasilien werden bis zu 40.000 Hinchas ohne Eintrittskarten nach Rio kommen. Und je nach Endspielgegner könnten es weitaus mehr werden. „Wenn es gegen Deutschland geht, okay, da sind noch die Rechnungen aus 2006 und 2010 offen. Aber Brasilien im eigenen Land schlagen und den Pokal mit nach Hause nehmen, das wäre das Größte“, sagt Leo.

Dem Halbfinale gegen die Niederlande sieht er gelassen entgegen. Mit der Familie und mit Freunden wird er das Spiel zu Hause schauen. „Di Maria fällt aus, aber Kun Agüreo kommt wieder. Und gegen Belgien war die Abwehr zum ersten Mal richtig gut.“ Sich in Ruhe auf das Spiel am 9. Juli vorzubereiten, dafür haben die Argentinier Zeit. Denn der 9. Juli ist als Tag der Unabhängigkeit einer der wichtigsten Feiertage Argentiniens, an denen sogar die meisten Geschäfte geschlossen haben. Das Land wird also nicht früh aufstehen. Gegen 14.00 Uhr wird das Asado vorbereitet, also der Grill wird angeworfen. Dann kommen die Freunde oder Verwandten. Beim Essen wird der Endspielgegner analysiert werden, und das Fieber, nach Rio fahren zu müssen, wird einsetzen. Um 17.00 Uhr sitzt Argentinien geschlossen vor dem Bildschirm.

„Brasilien und Argentinien waren immer die Größten“, sagt Leo. Ob Pelé oder Maradona der beste Spieler aller Zeiten ist, beantwortet jedes Land für sich. „Olé, olé, Maradona es más grande que Pelé“, skandieren die Argentinier in Brasilien. „Argentino, dime cómo te sientes, tienes solo dos Copas, una menos que Pelé“ (Argentinier, wie fühlst du ich, hast nur zweimal den Pokal gewonnen, eine weniger als Pelé), antwortet die Nation, die insgesamt fünfmal den Pokal geholt hat. „Aber nie gegen uns“, sagt Leo.

Immer eine Überraschung

1990 habe man die Brasilianer in Italien im Achtelfinale aus dem Turnier geworfen, um dann durch den geschenkten Elfmeter im Finale gegen Deutschland zu verlieren. „Das wäre ein Grund, um gegen die Deutschen zu spielen. Aber die Copa in Rio gegen Brasilien zu gewinnen, das wäre wahre Größe.“

Die Schaufenster des südamerikanischen Fußballs waren immer Brasilien und Argentinien, und die Rivalität zwischen den beiden größten Flächenstaaten auf dem Subkontinent hat jahrzehntelange Tradition. Wer in Südamerika den besten Fußball spielt, wurde immer unter Argentinien und Brasilien ausgemacht. Heute sei das etwas anders, meint Leo. Uruguay sei schon immer für eine Überraschung gut gewesen, doch vor allem Paraguay, Chile und Kolumbien hätten kräftig aufgeholt.

Die Vergangenheit spiegelt sich noch immer in den Statistiken nieder. 22-mal gewannen Clubs aus Argentinien die Copa Libertadores, die südamerikanische Variante der Champions League, 17-mal hielten brasilianischen Spieler die Copa in die Höhe. Uruguayische Vereine liegen mit acht Titeln abgeschlagen auf Rang drei. Der Rest ist kaum der Rede wert. Ähnlich ist es beim Gewinn der Copa América. Hier liegt die Nationalmannschaft Argentiniens mit 14 zu 8 vor Brasilien, jedoch hinter Uruguay mit 15 gewonnenen Titeln.

Brasilianische Fußballspieler muss man in den argentinischen Ligen mit der Lupe suchen. Eher schon tummeln sich argentinische Spieler bei renommierten Clubs im Nachbarland. Bestes Beispiel ist gegenwärtig Andrés D’Alessandro beim SC Internacional in Porto Alegre. D’Alessandro (spielte von 2003 bis 2006 beim VfL Wolfsburg) hatte nicht nur die Ehre bei der Einweihung des neuen WM-Stadions im Februar mit Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff den symbolischen ersten Anstoß zu machen, sondern erzielte beim späteren Eröffnungsspiel bereits nach vier Minuten das Tor im Estádio Beira-Rio.

Urlaub beim Nachbarn

Normal ist jedoch, dass argentinische und brasilianische Spitzenfußballer bei europäischen Clubs zusammenspielen und nicht in Südamerika. Das Paradebeispiel aus den aktuellen WM-Kadern beider Länder ist das Duo Messi/Neymar beim FC Barcelona, zu dem sich Mascherano und Dani Alves gesellen. Di Maria und Marcelo bei Real Madrid. Demichelis, Zabaleta und Agüero sowie Fernandinho bei Manchester City. Higuain und Henrique beim SSC Neapel runden das Wiedersehenstreffen im erhofften Finale ab.

„Rivalität ja, Feindschaft nein“, sagt Leo. Seit Jahren fährt er, wie viele andere auch, in den Urlaub nach Brasilien. Nichts Negatives habe er bisher erlebt. „Wir Argentinier haben nichts gegen Brasilianer, im Gegenteil, wir mögen sie, ebenso wie die Uruguayos“, meint Leo. Nur die Chilenen könne man gar nicht leiden. „Nach Chile fährt doch auch keiner. Da machen alle nur schlechte Erfahrungen.“ Gerade jetzt stünde wieder in der Zeitung, dass die Engländer ohne die Chilenen den Malwinenkrieg nie hätten gewinnen können. „Hat ein englischer Offizier von damals jetzt zugegeben.“

Doch die anfänglich gute Stimmung der Brasilianer gegen Argentinien scheint zu kippen. Gab es zu Beginn der WM noch eine unglaubliche Euphorie wegen der Ankunft von Messi und Co., so scheint man dem Rivalen inzwischen sehnlichst das Ausscheiden zu wünschen.

Mario war eigens zum Achtelfinale gegen die Schweiz nach São Paulo geflogen und kam konsterniert zurück. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie die Brasis in Schweizer Trikots 120 Minuten noch jede so beschissene Aktion der Schweizer gegen uns bejubelt haben.“ Er hätte schon einen dicken Hals gehabt, da habe Di Maria mit dem Spucken endlich aufgehört. „Erst mal haben wir gejubelt und dann unseren ganzen Frust gegen die Brasis gesungen.“ Ähnliche Erfahrungen mit Brasilianern in belgischen Trikots machten die argentinischen Fans im Viertelfinale.

Das Verhöhnen des Rivalen ist jedoch auch am Rio de la Plata so normal wie die Unterstützung für die eigene Mannschaft. Derzeit macht ein Video im Netz negative Furore. Zu sehen ist eine kleine argentinische Fangruppe, die eine Wirbelsäule wie einen Pokal hochhält. „Olé olá, ya ganamos la columna de Neymar“, grölt das Grüppchen.