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Archiv-Artikel

Chinas getriebene Führung

MACHT Der neue Staatschef Xi Jinping tritt als Mann der Härte auf – doch die Repression erstickt die Innovation, und die braucht die Partei dringend

Kristin Shi-Kupfer

■ leitet das Forschungsfeld Gesellschaft und Medien bei merics (Mercator Institute for China Studies) in Berlin. Die promovierte Sinologin hat von 2007 bis 2011 als freie Autorin für deutsche Medien, unter anderem die taz berichtet.

Noch nie sah sich Bundeskanzlerin Angela Merkel einem so selbstbewusst auftretenden chinesischen Staats- und Parteichef gegenüber. Im Gegensatz zu seinem steifen Amtsvorgänger Hu Jintao glänzt Xi Jinping als überzeugender Macher. Er greift hart durch, um seine Vision von dem „erwachten Löwen“ Wirklichkeit werden zu lassen. Seit Monaten geht er gegen korrupte Kader vor, lässt kritische Intellektuelle wegsperren und Kriegsschiffe vietnamesische Fischerboote rammen. Selbst mit den USA scheut er die Auseinandersetzung nicht länger.

Das maßlose Militär mäßigen

Doch der selbstbewusste Schein trügt: Die chinesische Führung um Xi Jinping ist vor allem eine getriebene. Sie verstrickt sich immer mehr in die Widersprüche der eigenen Reformvorhaben und ihres komplizierten Machtgefüges: Das politische Beijing ist ein Getriebener des Militärs.

Xi braucht den Wettstreit mit den Nachbarn und die Rivalität mit Washington um Einflusssphären im Ost- und Südchinesischen Meer. Die Armee fordert nicht nur ein größeres Budget für moderne Waffensysteme, sondern sie verlangt auch Projektionsflächen für die chinesischen Potenzfantasien. Zudem hat die politische Loyalität der Generäle ihren Preis. Einen teuren Kompromiss musste Chinas Staatschef Ende Juni offenbaren: Durch die beschlossenen Änderungen des „Gesetzes zum Schutz militärischer Einrichtungen“ gewährt Xi der Armee de facto ein Mitbestimmungsrecht bei lokalen Investitionen und Bauvorhaben – und damit auch neue Bereicherungsmöglichkeiten. Gleichzeitig lässt Xi aber weiterhin zumindest einige Offiziere mithilfe von Korruptionsvorwürfen kaltstellen – als Warnung vor zu viel Maßlosigkeit seitens des Militärs. Jüngst traf es den Exvizechef der Logistikabteilung Gu Junshan und den Exvizevorsitzenden der Militärkommission Xu Caihou.

Doch auch bei der Korruptionsbekämpfung handelt Xi fremdbestimmt. Sein Rückgriff auf maoistische Instrumente der Kaderpolitik zeigt – bühnenreife Selbstkritiksitzungen und utopische Demutsbeschwörungen – wie sehr China nach Idealen sucht: Die Partei muss als saubere Elitetruppe im neuen Glanz erstrahlen, um der Bevölkerung die schmerzhaften Reformen angesichts von Niedrigwachstum und sozialen Härten schmackhaft zu machen. Xi Jinping weiß natürlich auch, dass die macht- und geldverwöhnten Kader sich gegen Transparenz und Konkurrenz in lukrativen Wirtschaftszweigen sträuben. Mit seiner ungewöhnlich lang anhaltenden und öffentlich ausgetragenen Antikorruptionskampagne will Xi ihren Widerstand brechen. Doch damit droht der Staats- und Parteichef den Apparat zu zerstören, den er für die Umsetzung der Reformen dringend braucht. Die Korruptionsverfolgung schreckt viele Beamte ab, denn sie bietet ihnen keinerlei Anreize für die schwierige Umsetzung von Xis Politik. Daher tun sie lieber gar nichts, so lange es irgend geht. Und wer kann, wandert ins Ausland ab: Dort haben viele Kader längst ihre Familien und ihr Vermögen in Sicherheit gebracht.

Reform ohne freie Mittelschicht

Die chinesische Führung ist eine getriebene der eigenen Bevölkerung. Ideenreichtum und Innovationskraft sieht Peking als Notwendigkeit für ein reformfähiges Land. Dazu braucht der Parteichef scharfsichtige Berater und eine gebildete Mittelschicht. Chinas klügste Köpfe haben immer wieder Bereitschaft signalisiert, schwierige Reformen gemeinsam mit der Regierung anzugehen, so auch der kürzlich verhaftete Rechtsanwalt Xu Zhiyong oder der inhaftierte Ökonom Ilham Tohti. Doch Xi sieht sich auch gezwungen, potenzielle Ideengeber einzuschüchtern oder gar wegzusperren. Und das nicht nur, weil die politischen und militärischen Hardliner daran glauben, dass „ausländische Kräfte“ Organisationen wie die Chinesische Akademie für Sozialwissenschaften durchdringen. Sondern auch, weil die politische Führung keine gut vernetzten Reformpartner will, die die immanenten Widersprüche ihrer Vorhaben scharfzüngig benennen: Korruptionsbekämpfung ohne unabhängige Gerichte, Lebensmittelsicherheit ohne unabhängige Überwachung, Innovation ohne Rechtssicherheit – sie halten das für falsch.

Kontrolle ohne gute Polizei

Blogger dokumentieren die enormen Ausmaße des Schattenbanksektors, und Journalisten kritisieren stagnierende Reformprojekte, etwa dass es für die Bekämpfung der Luftverschmutzung keinerlei konkrete Pläne gibt. Und auch gegen die wachsende Kontrolle im Internet regt sich Widerstand aus der Mittelschicht: Angestellte und Privatunternehmer beklagen ein durch Zensur gedrosselte Internet und mangelnde Informationsvielfalt. Selbst unpolitische Konsumenten bezweifeln, dass ein stärker kontrolliertes Netz wirklich sicherer werde.

Korruptionsbekämpfung ohne unabhängige Gerichte, Innovation ohne Rechtssicherheit – das funktioniert nicht

Besonders heikel ist für Peking die Bedrohung durch Terroranschläge. Xi Jinping kann sie nutzen, um eine zunehmende Überwachung und verstärkte Polizei- und Militärpräsenz zu rechtfertigen – denn diese sind auch für die Prävention und Niederschlagung von Arbeiterstreiks oder Protesten gegen Landenteignung hilfreich. Allerdings schüren allzu massive Sicherheitsvorkehrungen die Unzufriedenheit in der Bevölkerung weiter. Wer braucht schon lange Warteschlangen vor U-Bahnen?

Eine Art Blanko-Schießbefehl für die Militärpolizei im Kampf gegen Terrorverdächtige führt vermehrt zu Schnellschüssen und hat bereits ein offiziell unschuldiges Opfer gefordert. Vertrauenswürdiger Paternalismus sieht anders aus. Zudem fördern die ausgeweiteten Repressionen in der Region Xinjiang eine weitere Radikalisierung der dortigen Autonomiebewegung. Eskaliert die Situation, gerät Xi Jinping erst recht in Erklärungsnot.

Und schließlich ist Xi Jinping auch ein Getriebener seiner Ambitionen: Ihm geht es um einen Platz in den Geschichtsbüchern. Gewaltsame Konfrontationen mit den Nachbarn, den USA oder auch der eigenen Bevölkerung (vielleicht schon bald in Hongkong) scheint er in Kauf zu nehmen. Xi weiß: Menschen in Ost und West sind bereit, einflussreichen Führern Härten zu verzeihen – solange sie die Illusion von Stabilität aufrechterhalten können und eine Alternative scheinbar fehlt. KRISTIN SHI-KUPFER