neuköllner blutdruckmittel von JENNI ZYLKA
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Neulich bin ich in zehn Minuten um Jahre gealtert. Zum Anpassen von Thrombosestrümpfen gegen niedrigen Blutdruck musste ich in ein Neuköllner Sanitätshaus. Im Fenster stand noch ein als Weihnachtsmann verkleideter Rollstuhl. Eine ältliche Tunte mit feinem Goldschmuck an Handgelenk und Händen und einem akkurat getrimmten Schnäuzer flötete: „Komme gleich!“, und so setzte ich mich neben ein Regal mit hochhackigen Damen-Saunalatschen, lutschte klebrige Bonbons vom Tresenteller und wartete.

„Haben Sie schwarze Thrombosestrümpfe“, fragte ich den Verkäufer, der endlich zwischen ein paar Armschienenkartons hervorgeweht kam. Er zwinkerte mir frivol zu. „Schwarz, wie? Uiuiui. Mal sehen.“ Er ruckelte an der Gleitsichtbrille und las Etiketten vor: „Perle, perle, teint, aber hier, hier haben wir noch schwarze. Dann kommen Sie doch mal mit.“ Der Verkäufer hielt einen Vorhang auf, und ich betrat eine Kabine mit Spiegel.

„So, jetzt muss ich zuerst Ihre Beine vermessen. Wenn Sie mal den Rock heben könnten, ja, noch höher, so ist’s richtig.“ Der Mann legte mir knapp schamunterhalb ein Maßband um den Oberschenkel, dann maß er Waden- und Knöchelumfang. Er kramte ein paar schwarze Strümpfe hervor und forderte mich auf, ihm gegenüber Platz zu nehmen. „Und jetzt“, sagte er, „legen Sie mal Ihr Füßchen auf meinen Schenkel.“ – „Das ist eher ein Fuß, ich habe Größe 41“, erwiderte ich. Der Mann drehte den ersten Strumpf auf links und lupfte den Fußling wie einen kleinen Beutel um. „Hier müssen jetzt Ihre Zehen hinein“, sagte er, „und dann … Stück für Stück … gaaanz langsam … nicht mit Gewalt, sondern mit Technik.“ Er zerrte und rollte den Strumpf geschickt an meinem Bein hoch.

„Aber das kann ich auch lernen, oder muss ich Sie dann jedes Mal anrufen“, fragte ich etwas nassforsch. „Hihi, nein“, sagte der Fachverkäufer, „das lernen Sie ganz schnell, Sie sind ja noch jung! Bei den älteren Damen, da geben wir schon mal eine Anziehhilfe mit, schauen Sie mal, so etwas.“ Er wies auf ein Gestell in der Ecke, das aussah wie ein billiger Mülltütenhalter aus Drahtbügeln. „Hier kann man den Strumpf einspannen, und dann schlüpft man einfach hinein.“ Ich schaute schnell wieder weg, weil Bilder von hornigen, durch Wassereinlagerungen aufgeblähten Damenfüßen mit gelben Zehennägeln mein Gehirn fluteten. Um meine Jugend und Lernfähigkeit zu demonstrieren, zog ich den zweiten Strumpf rasch allein an.

Während der Verkäufer meine Daten in die Kasse tippte, guckte ich auf Tena-Lady-Pakete. Neben den Bonbons auf dem Tresen lag Lifta-Werbung. Mir fiel ein, dass eine Nachbarin neulich gesagt hatte, sie habe seit kurzem die ab 40 in ihrem Briefkasten, eine Zeitung mit Themen wie „Düfte“ oder „Ein Besuch auf dem ersten privaten Friedhof Deutschlands“. Abonnier doch die Neon dazu, riet ich ihr, dann kommt das im Durchschnitt wieder hin.

„Okay“, sagte der Verkäufer, „ich wünsche Ihnen viel Freude mit den …“, er lächelte spitzbübisch, „… Strümpfen!“ – „Hab ich bestimmt“, murmelte ich und merkte beim Rausgehen bereits, wie mein Blutdruck stieg. Aber vielleicht lag es auch an der Umgebung. Neukölln kann ganz schön aufregend sein.