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Archiv-Artikel

Unter Geiern

Argentinien stößt nach Jahren der Hoffnung an seine alten wirtschaftlichen Grenzen von José Natanson

Buenos Aires am 1. März 2014. Die von einer Operation genesene Präsidentin Cristina Kirchner betritt den Palacio del Congreso, der Ende des 19. Jahrhunderts errichtet wurde und mit seinen griechisch-römischen Reminiszenzen an die goldene Epoche der argentinischen Agrarexporte erinnert. Kirchner hat vor dem Parlament die Regierungserklärung für die neue Legislaturperiode zu verlesen. Die dreistündige Rede enthält keine großen Neuigkeiten.

Viel wichtiger ist der Ton, den die Präsidentin anschlägt. Früher nutzte sie jede Gelegenheit, um ihre Gegner (Opposition, Medien, Unternehmer) anzugreifen und den Kurs der Regierung rigoros zu verteidigen. Doch heute gibt sie sich moderat und lobt sogar einige Vertreter der Opposition. Auch die Atmosphäre ist anders. Ihre Bühnenbildner haben gedämpftes Licht gewählt. Das schafft eine intime, zurückhaltende Stimmung, die durch das cremefarbene Kleid der Präsidentin noch unterstrichen wird. Endet nun die Ära des Kirchnerismus, mit fast zwölf Jahren der längste politische Zyklus in Argentinen seit der Rückkehr zur Demokratie 1983? Noch ist es für eine Antwort zu früh, aber eines ist klar: die Regierung befindet sich in einer Position der Schwäche.

Der „Kirchnerismus“, benannt nach dem 2010 verstorbenen Néstor Kirchner, der von 2003 bis 2007 Präsident war, und dessen Nachfolgerin und Ehefrau Cristina Fernández de Kirchner, ist eine Spielart des linken Peronismus. Der Begriff bezeichnet den Bruch mit dem Rechtsperonismus und der neoliberalen Wirtschaftspolitik, die Präsident Carlos Menem betrieben hatte. Kirchnerismus steht dagegen für einen stärkeren Staat, für Sozialprogramme und ein solides Bürgertum, aber auch für die Konfrontation mit den Arbeitgebern und den privaten Medien, die sich in den Händen mächtiger Interessengruppen befinden. Diese Strategie sorgte für traumhafte Wachstumsraten von 8 bis 9 Prozent. Bis ihr vor einigen Monaten die Luft ausging.

Seither häufen sich die Probleme: Ende 2013 schien die argentinische Wirtschaft zum ersten Mal seit dem Amtsantritt Néstor Kirchners der Kontrolle der Regierung zu entgleiten. Bei einer auf 3 Prozent gesunkenen Wachstumsrate und einer Inflationsrate von 30 Prozent[1]schmolzen die Devisenreserven der Zentralbank – letzte Verteidigungslinie in Krisenzeiten – unaufhaltsam dahin. Im Dezember 2013 sanken sie unter 27 Milliarden Dollar, womit Argentiniens Importe nicht einmal sechs Monate lang zu finanzieren waren.

Dabei ist ist dem Land aufgrund seiner 2001 eingetretenen Zahlungsunfähigkeit der Zugang zu den internationalen Kreditmärkten weitgehend verschlossen – im Unterschied zu anderen linksregierten Ländern wie Bolivien oder Brasilien. Die Auslandsschulden wurden inzwischen zwar deutlich abgebaut, sind aber nur mit Devisenreserven zu bedienen. Diese Situation milderte lange Zeit die Abhängigkeit vom IWF und den Finanzmärkten. Aber sie wurden zu einer Belastung, als infolge der globalen Finanzkrise die „chinesischen“ Wachstumsraten der Jahre 2003 bis 2008 geringer ausfielen und die Konsumerwartungen, der Motor des kirchneristischen Wirtschaftsmodells, wie auch die Investitionen zurückgingen.

Um den Devisenabfluss zu stoppen, beschränkte die Regierung Ende 2011 den Zugang zu Dollars. Die US-Währung war nur noch zu Reisezwecken zu haben; seit Januar 2014 ist der Erwerb auch für private Rücklagen gestattet, bis zu einer nach Einkommen gestaffelten Obergrenze. Doch statt die Devisenreserven zu schützen, beschleunigten diese Maßnahmen die Kapitalflucht sowohl ins Ausland als auch in die Sparstrümpfe der Mittelschicht.

Dies Resultat war im Grunde absehbar. Die Argentinier haben in den letzten 30 Jahren zweimal eine Hyperinflation (1988 und 1990) und zweimal das Einfrieren ihrer Sparguthaben (1989 und 2001) erlebt, dazu noch ein halbes Dutzend Peso-Abwertungen. Deshalb haben sie sich angewöhnt, Dollars zu horten. Die bekommt man bei Leuten, die an bestimmten Straßenecken des Bankenviertels grüne Scheine illegal anbieten. Diese „Bäumchen“, wie sie im Volksmund heißen, waren jahrelang aus dem Straßenbild verschwunden, jetzt tauchten sie plötzlich wieder auf.

Im Lauf der Krise drängten die großen Sojaexporteure[2]auf eine Abwertung des Peso. Ihre Strategie war simpel: Sie horteten die Ernten in ihren überquellenden Lagerhäusern entlang der Überlandstraßen. Unter diesem Druck musste die Zentralbank den Peso im Januar 2014 um 20 Prozent abwerten.

Am 16. Juni, als sich die wirtschaftliche Lage wieder beruhigt zu haben schien, lehnte der Supreme Court der USA den Widerspruch Argentiniens gegen ein erstinstanzliches Urteil von 2012 ab, das dem Land auferlegt hatte, die Ansprüche der sogenannten Geierfonds zu 100 Prozent zu bedienen.

Diese Hedgefonds (wie NML Capital) hatten nach dem argentinischen Staatsbankrott massenhaft Ramschanleihen aufgekauft und dem Schuldenschnitt von 2005 und 2010 nicht zugestimmt. Diese Gläubiger konnten die Rückzahlung also zum Nennwert einklagen. Kirchner nannte diese Forderungen „erpresserisch“ und erklärte, Argentinien könne die geforderten 1,5 Milliarden Dollar für NML und die anderen Geier nicht aufbringen. Diese Summe wäre zehnmal so hoch, wenn die vielen Gläubiger, die sich an der Umschuldung beteiligt hatten, ebenfalls neue Forderungen stellen würden – was sie bis 2015 noch tun können.[3]

Die grünen Bäumchen von Buenos Aires

In dieser Situation erhielt Argentinien diplomatische Unterstützung durch die regionalen Bündnisse. Vor allem Unasur, die Union südamerikanischer Staaten, kritisierte das „Verhalten der Spekulanten, die Vereinbarungen zwischen Schuldnern und Gläubigern torpedieren und damit die finanzielle Stabilität auf internationaler Ebene“.

Trotz der drohenden Zahlungsunfähigkeit, die eine neue Finanzkrise auslösen könnte, bleiben der Präsidentin drei Optionen. Sie kann um Aufschub bitten, mit den Gläubigern verhandeln oder versuchen, den Gerichtsort von New York nach Buenos Aires zu verlegen, um ein Embargo zu vermeiden. Allerdings wird der Zugang zum internationalen Kreditmarkt durch den Spruch des Supreme Court extrem erschwert.

Doch das grundsätzliche Problem ist ein anderes: Argentiniens Wirtschaft hängt nach wie vor von Rohstoffexporten ab (Soja, Weizen, Mais und zunehmend auch Bodenschätze). Die Industrie ist kaum konkurrenzfähig und weist strukturelle Defizite auf. Um zu expandieren, benötigt sie Zwischenprodukte, die großenteils importiert werden müssen, was wiederum die Handelsbilanz belasten würde.

In der Geschichte des Landes haben sich bestimmte Zyklen ständig wiederholt. Die Industrie wächst und benötigt zusätzliche Importe, die mit Agrarexporten finanziert werden müssen. „In gewisser Weise bestimmen die Agrarüberschüsse die Grenze der industriellen Expansion und damit auch von Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand“, schreibt der heterodoxe Ökonom Aldo Ferrer.[4]

Für neoliberale Ökonomen ist das kein Problem: Der Markt entscheidet, welche Bereiche konkurrenzfähig sind. Überleben würden also nur der Agrarsektor und die von ihm abhängigen Branchen Finanzen und Immobilien. Doch das reicht nicht aus für ein Land mit über 40 Millionen Einwohnern, das einmal die größte Mittelschicht und den fortgeschrittensten Wohlfahrtsstaat Lateinamerikas hatte und das nicht bereit ist, das Brot von morgen mit dem Hunger von heute zu bezahlen. Und der südkoreanische Weg, den Entwicklungsschub über Jahrzehnte durch Zwangsopfer der Bürger zu finanzieren, ist in Argentinien undenkbar.

Die Kirchner-Regierungen haben durch Eingriffe in den Markt und die Besteuerung von Agrarexporten finanzielle Ressourcen vom Land in die Industrie umgeleitet und Teile der in der neoliberalen Ära vernichteten Industrie wieder aufgebaut. Das hat verhindert, dass die argentinische Wirtschaft sich genauso schnell zur reinen Rohstoffexportwirtschaft zurückentwickelt wie andere Volkswirtschaften Lateinamerikas, inklusive der brasilianischen. Während der Anteil der Rohstoffexporte an den argentinischen Gesamtausfuhren in den letzten zehn Jahren mit 48 Prozent konstant blieb, stieg er für Brasilien von 30 auf 46 Prozent.[5]Dank der Industrieförderung wuchs die Wirtschaft Argentiniens doppelt so schnell wie die Brasiliens, das Chile als Liebling der Finanzmärkte abgelöst hat. Dennoch reichten die Exportüberschüsse des argentinischen Agrarsektors nicht aus, um das Handelsbilanzdefizit bei Industrieprodukten auszugleichen. In diesem Bereich wird das Wachstum wie eh und je durch Faktoren gebremst, die den Aufbau einer konkurrenzfähigen Industrie behindern. Damit kehrten auch dieselben politischen Spannungen zurück.

Das Problem der Regierung ist nicht nur die Wirtschaft, sondern auch ihre eigene politische Schwäche. 2011 wurde Cristina Kirchner noch mit 54 Prozent der Stimmen wiedergewählt; bei den Parlamentswahlen im Oktober 2013 erhielt ihre Partei, die peronistische PJ, nur noch knapp 30 Prozent. Die Kirchneristen haben zwar noch eine relative Mehrheit im Parlament, aber eine stabile Basis für die Zeit nach den Präsidentschaftswahlen 2015, bei denen die Amtsinhaberin nicht mehr kandidieren darf, werden sie damit kaum erreichen. Deshalb musste die Regierung auf die beiden Lösungen verzichten, auf die linke Präsidenten in Lateinamerika bislang gesetzt haben.

Der nächste Präsident wird rechts von Kirchner stehen

Die erste wäre eine Verfassungsänderung – wie in Venezuela, Nicaragua, Bolivien und demnächst vielleicht in Ecuador –, die eine nochmalige Wiederwahl des Präsidenten ermöglicht. Die zweite wäre die rechtzeitige Regelung der „Thronfolger“, wie sie Ricardo Lagos 2006 in Chile mit Michelle Bachelet und Lula da Silva 2010 in Brasilien mit Dilma Rousseff gelungen ist. Beide Lösungen funktionieren allerdings nur, wenn die ausscheidende Führungsfigur große Popularität genießt und ihre Partei zu disziplinieren versteht.

Beides ist im Fall Cristina Kirchner nicht gegeben. Erstens kann sie auf die Unterstützung von lediglich 40 Prozent der Bevölkerung zählen. Und zweitens hat die peronistische Partei weder institutionalisierte Entscheidungsgremien noch eine klare ideologische Linie. Sie ist vielmehr eine pragmatische Bewegung, in der unberechenbare regionale und lokale Führer den Ton angeben und die ideologisch ein breites politisches Spektrum von rechts bis links umfasst. Wie die mexikanische Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) ist sie, in der Nachfolge der populistischen Parteien des 20. Jahrhunderts, ein rätselhaftes Phänomen, das europäische Akademiker verzweifeln lässt – zum Beispiel darüber, wie der Peronismus zugleich an der Regierung und in der Opposition sein kann.

Am wahrscheinlichsten ist daher, dass der peronistische Kandidat in einem parteiinternen Auswahlprozess ermittelt wird. Die besten Aussichten hat dabei der Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Daniel Scioli, ein ehemaliger Gefolgsmann der Kirchners, der in Wirtschaftsfragen moderatere und in Fragen der Sicherheit offen rechte Positionen vertritt.

Im oppositionellen Lager sind die aussichtsreichsten Kandidaten Mauricio Macri, Chef eine Mitte-rechts-Partei und Bürgermeister von Buenos Aires, und Sergio Massa, ehemals Kabinettschef von Cristina Kirchner, der dieses Amt 2009 wegen politischer Differenzen mit der Präsidentin aufgegeben hat. Die drei aussichtsreichsten Kandidaten für das Präsidentenamt stehen politisch allesamt rechts von Cristina Kirchner.

Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Situation und der Unklarheit bei der Amtsnachfolge bekommt die soziale Protestbewegung zunehmend Auftrieb. Im Dezember 2013 wurden während eines Streiks der Polizei in mehreren Städten Geschäften geplündert. Im März streikten in mehreren Provinzen die Lehrer 20 Tage lang. Im April riefen einige Gewerkschaften zum Generalstreik für Lohnerhöhungen auf. Dennoch wäre es falsch, vorschnell das Ende des Kirchnerismus zu verkünden.

Die Regierung verfügt immer noch über beträchtlichen Rückhalt und hat in beiden Kammern des Kongresses eine relative Mehrheit. Zudem hat sie es nach der Krise im Januar geschafft, den Dollar-Wechselkurs zu stabilisieren, und nach der Abwertung des Pesos sind die Devisenreserven dank der Sojaexporte langsam wieder angewachsen.

Zugleich hält die Regierung an groß angelegten Sozialprogrammen fest: Die Unterstützung für Kinder aus armen Familien erreicht mittlerweile 3,5 Millionen Menschen, zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus wurden mehr als 400 000 Kredite vergeben, und von dem Programm, das Jugendliche zum Abschluss der Sekundarschule führen soll, profitieren bereits 300 000 Schüler. 90 Prozent der Bevölkerung sind in das Rentensystem integriert – für Lateinamerika eine Rekordrate. Die Arbeitslosigkeit liegt auf dem historischen Tiefstand von 7 Prozent, und die tariflich vereinbarten Lohnerhöhungen sind hoch genug, um die Inflation auszugleichen.

In der Vergangenheit haben die Kirchneristen auf Krisen meist mit Kurskorrekturen nach links reagiert. Auf die Depression nach dem Währungszusammenbruch von 2001 reagierte man mit einer Neuverhandlung der Auslandsschulden und neuen Steuern auf den Sojaexport. In der globalen Krise von 2008 hat man das Rentensystem verstaatlicht. Als sich der Konflikt mit den großen Agrarunternehmen zuspitzte, wurden neue Sozialprogramme aufgelegt und ein Gesetz zur gleichgeschlechtlichen Ehe verabschiedet. Und auf die Energiekrise von 2010 folgte die Nationalisierung des Ölkonzerns YPF.

Aber das „kirchneristische Modell“ weist deutliche Risse auf. Die Industrieproduktion ist nicht diversifiziert, die Sozialprogramme haben die Armut, nicht aber die Ungleichheit verringert, die hohen Bildungsausgaben haben qualitativ nicht viel bewirkt. Cristina Kirchner steht vor einer doppelten Herausforderung: Sie muss ihre Amtszeit geordnet beenden, was in Argentinien keineswegs selbstverständlich ist (viele Präsidenten schieden vorzeitig aus dem Amt). Und sie muss dafür sorgen, dass ihr Nachfolger – höchstwahrscheinlich ein Rechter – keine konservative Gegenreform einleitet und die Erfolge der letzten Jahre zunichte macht.