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Archiv-Artikel

Der Ausgetauschte

Am 8. November 1942 verlässt ein Sonderzug Wien: Während die Vernichtung der europäischen Juden ihrem Höhepunkt zustrebt, werden 69 Menschen durch einen Austausch gerettet. Unter ihnen: der 15-jährige Israel Sumer Korman

VON KLAUS HILLENBRAND

Wien Südbahnhof. Am späten Abend des 8. November 1942 wird ein Zug bereitgestellt, der wegen seiner Länge kaum an den Bahnsteig passt: Dreizehn Waggons umfasst die Wagenschlange. Leichter Sprühregen geht über das kriegsverdunkelte Wien nieder, als eine seltsame Reisegruppe den Sonderzug besteigt. Es sind Briten, Südafrikaner, Australier, Kanadier. Und Juden: 69 jüdische Frauen, Kinder und wenige Männer verlassen an diesem Abend das Deutsche Reich. Während überall im Machtbereich der Nazis, von Frankreich bis in die Sowjetunion, Millionen Juden deportiert, erschossen und vergast werden, reisen diese 69 Menschen nach Palästina. In die Freiheit.

Einer von ihnen ist Israel Sumer Korman. Der schmächtige 15-Jährige mit dem Rufnamen Sumek hat oft geweint in den letzten Nächten im Wiener Obdachlosenheim, wo die Gruppe auf die Abreise warten musste. Der Junge aus Polen ist allein. Seine Mutter haben sie im Sommer in einen überfüllten Viehwagen gezwungen und ins Unbekannte abtransportiert. Lebt sie noch? Großmutter, Tanten, die anderen Verwandten mussten mit in diesen Zug, oder man hat sie gleich im Ghetto erschossen. Nur der Vater und zwei Onkel leben noch in Radom, der Heimatstadt südlich von Warschau im von den Deutschen besetzten Generalgouvernement. Aber was heißt „leben“: die Wohnung beschlagnahmt, zur Zwangsarbeit in der Fabrik gezwungen, bei winzigen Essensrationen, ohne Hoffnung.

Um 21.50 Uhr ruckt der Zug laut Fahrplan an auf seiner langen Fahrt nach Istanbul. Israel Sumer wird leben. Er und die anderen Mitreisenden werden ausgetauscht gegen 301 in Palästina lebende Deutsche, die Gauleiter Ernst Wilhelm Bohle, SS-Gruppenführer und Leiter der Auslandsorganisation der NSDAP, als „recht wertvolle Gruppe unseres Auslandsdeutschtums“ klassifiziert hat. Der Reichsführer-SS, Heinrich Himmler, gedenkt, die Palästinadeutschen, wenn der Krieg gewonnen ist, im milden Klima der Krim anzusiedeln. Monatelange Vorbereitungen hat es gegeben für diesen Austausch, einen von nur fünf zwischen 1941 und 1945, bei denen sich insgesamt 550 Juden aus ganz Europa retten konnten.

Dies ist die Geschichte vom Austausch Nummer zwei. Und es ist die Geschichte von Israel Sumer Korman, dem Jungen aus Radom, der sich erinnert.

Sechzehntausend Kilometer von Wien entfernt, 64 Jahre später, im Jahr 2006: An der milden australischen Goldküste am Pazifik bittet der Mann, der sich heute Ian Korman nennt, in sein Haus. 79 Jahre alt ist er jetzt, doch der schlanke, großgewachsene Herr wirkt zehn Jahre jünger. Ian Korman führt durch die Räume des kleinen Hauses und den Garten, bittet, Platz zu nehmen auf dem Sofa. Seine Frau Lesley, gebürtige Australierin, hat einen Berg Sandwichs zubereitet für den langen Tag, an dem Ian Korman dem deutschen Besucher aus seinem Leben erzählt. Er berichtet auf Englisch mit ruhiger, heller Stimme, ohne sichtbare Aufregung. Manchmal muss er minutenlang nachdenken, um sich an Einzelheiten zu erinnern. Aber meist antwortet er schnell, klar und präzise.

Als die deutsche Wehrmacht am 8. September 1939 die Stadt Radom erobert, ist Israel Sumer Korman zwölf Jahre alt. „Ich sah sie kommen“, erzählt er. „Ich sah hunderte Motorräder, Panzer, marschierende Truppen. Der erste Eindruck war Macht.“ Die Kormans dürfen weiter in ihrer Wohnung im ersten Stock an der breiten Zeromskiegostraße im Stadtzentrum wohnen. Auch das Geschäft der Eltern im Erdgeschoss des Hauses, in dem es von Rasierzeug bis zu Kinderspielzeug alles zu kaufen gibt, bleibt zunächst unangetastet.

Weder Polen noch Juden wissen von den weiteren Plänen der Nazis. Manche Radomer sind vor dem deutschen Einmarsch in den Osten Polens geflohen, dorthin, wo nun die Sowjets eindringen. Ein Onkel von Israel Sumer gehört zu ihnen. Er kehrt ein halbes Jahr später nach Radom zurück. „Onkel Yakow hatte es dort nicht ausgehalten und gedacht, es könne bei den Nazis nicht schlimmer sein.“ Doch das ist ein Trugschluss. Über den Charakter der Besatzung lassen die Deutschen schon wenige Tage nach der Eroberung keinen Zweifel: „Sie ergriffen Juden und schnitten ihnen die Bärte ab“, berichtet Korman. „Sie führten Leute von der Straße weg ab zur Zwangsarbeit.“

In Radom, einer Stadt von 85.000 Einwohnern, leben zu diesem Zeitpunkt etwa 30.000 Juden. Erster Schritt der deutschen Terrorherrschaft ist die Separierung der Juden von der übrigen Bevölkerung. Wie alle Juden im Alter von über zehn Jahren muss auch Israel Sumer Korman ab Dezember 1939 den Judenstern tragen. Eine zweite Verordnung zwingt zur Kennzeichnung des Geschäfts als „jüdisch“. Im selben Monat wird der Arbeitszwang eingeführt. Viele Radomer Juden werden in Arbeitslager deportiert. Von Januar 1940 an ist Juden die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ohne Sondergenehmigung verboten.

„Wir führten zunächst unser Geschäft weiter“, erinnert sich Korman. „Man dachte: Wenn die Deutschen erst einmal sehen, dass alles in Ordnung ist, können die Juden so weiterleben wie bisher.“ Trotzdem beginnen die Kormans, sich für alle Eventualitäten vorzubereiten: „Eines Tages kam ein Schuhmacher zu uns. Der schnitt Löcher in die Absätze, in die anschließend alte Goldmünzen gefüllt wurden. Wofür auch immer. Es war für die Erwachsenen offensichtlich, dass etwas passieren würde.“ Was genau passieren wird, liegt jenseits ihrer Vorstellungskraft.

Als Kind hatte Israel Sumer ein Lieblingsspielzeug: „Es war ein Soldat mit einem Gewehr. Wenn man auf einen Knopf drückte, hob der Soldat sein Gewehr und schoss.“ Jetzt sind die Soldaten real – und sie schießen auf Juden, die die Zwangsarbeit verweigern. Die Kormans gehören zu den Wohlhabenderen der Radomer Juden. Die Wohnung besitzt, damals eine Seltenheit, bereits ein WC. Die Kormans haben sich hochgearbeitet: „Der Laden war anfangs oben in unserer Wohnung untergebracht. Das Geschäft lief gut, obwohl die Kunden jedes Mal die Treppe benutzen mussten.“ Etwa 1935 mieten Mordechai Korman und seine Frau Hannah Symcha Korman das Ladenlokal im Erdgeschoss. Drei Söhne hat das Ehepaar: Izaak Lejzor, genannt Lusek, Mosche und als Jüngsten Israel Sumer. „Wir waren bestimmt keine Millionäre“, sagt Ian Korman. „Aber es ging uns gut. Jedes Jahr im Sommer mieteten wir ein Bauernhaus am Wald in der Umgebung und machten Ferien.“ Ein polnisches Kindermädchen versorgt den kleinen Sumek. Sie bringt ihm Lieder bei, die er heute noch singen kann.

Die Juden von Radom haben wenig Kontakt zur katholischen Mehrheit. Die Kinder besuchen die jüdische Schule, die Familie hält die religiösen Regeln strikt ein. Man spricht zu Hause Jiddisch, doch natürlich beherrscht die Familie auch das Polnische. „Die Polen wollten uns nicht in ihrer Gesellschaft. Wir sahen uns selbst niemals als Polen an“, erinnert sich Korman.

Das Viertel ist gemischt. Da gibt es eine jüdische Kneipe und eine von Christen betriebene Metzgerei, den jüdischen Herrenausstatter, die christliche Apotheke. Viele Juden aus den benachbarten Dörfern kommen zu den Kormans, um dort ihr Rasierzeug zu kaufen. „Aber ich glaube, die meisten unserer Kunden waren keine Juden“, meint Ian Korman heute.

Im Jahr 1941 sind es vor allem deutsche Soldaten, die zu den Kormans ins Geschäft kommen. Hin und wieder stehlen sie. Dann rennt Israel Sumer zum Militärposten um die Ecke. Normalerweise bekommt er nur ein „Hau ab!“ zu hören. Doch eines Tages sind dort zwei Polizisten, die sich für den Diebstahl interessieren. „Diese Geschichte könnte ich zehnmal am Tag erzählen, weil sie so wundervoll ist“, sagt Korman. „Die Polizisten folgten mir ins Geschäft und begannen, die Diebe zu beschimpfen. Die Soldaten bezahlten wieder, und die beiden Polizisten blieben zwei Tage in unserem Geschäft. Sie benahmen sich wie menschliche Wesen. Für uns war es wie ein Wunder, dass diese Leute uns von Gleich zu Gleich behandelt haben, nicht von oben herab. Sie kamen wie aus einer anderen Welt. Sie wussten, dass wir Juden waren. Am Ende des zweiten Tages sagten sie zu meinem Vater, dass sie leider gehen müssten. Ich hoffe wirklich, dass sie gut durch den Krieg gekommen sind.“

Es ist die große Ausnahme, an die sich Ian Korman erinnern kann. Der Alltag unter deutscher Besetzung sieht anders aus. Die Nazis drängen die Juden aus ihren Industrie- und Handwerksbetrieben, die anschließend deutschen Treuhändern unterstellt werden. Jüdische Konten werden gesperrt. Die Bevölkerung verarmt. Juden aus anderen Teilen Polens kommen als Flüchtlinge nach Radom, verschlimmern die Wohnungsnot. Im Frühjahr 1940 bildet die Jüdische Soziale Selbsthilfe eine Filiale in Radom, um die Notleidenden in öffentlichen Suppenküchen zu speisen. Zum 1. Januar 1941 tritt im Generalgouvernement eine zehnstufige Rationierungsskala in Kraft, die Juden besetzen darin den letzten Platz. Die wöchentlichen Rationen für sie betragen: 700 Gramm Brot, bis 50 Gramm Zucker, 40 Gramm Getreidekaffee, Kartoffeln „nach Bedarf“, Gemüse „nach jahreszeitlichem Anfall“, ein Viertelliter Milch „nach Vorhandensein“.

Um diese Zeit muss es sein, dass Israel Sumers Mutter alle Hebel in Bewegung setzt, um Polen zu verlassen. „Meine Mutter war Zionistin“, sagt Korman. „Sie sagte, der einzige Platz für Juden ist Palästina.“ 1934 war sie zum ersten Mal dorthin gereist. Sie kauft eine Wohnung in Tel Aviv. 1936 geht der erste Bruder von Israel Sumer Korman nach Palästina, kehrt 1938 für kurze Zeit zurück. Im selben Jahr emigrieren beide älteren Brüder endgültig ins Gelobte Land. Als die Mutter 1939 aus Palästina zu ihrem Mann und dem kleinen Sumek nach Polen zurückkehrt, reist sie in ein besetztes Land.

„Vater hingegen war widerstrebend“, erinnert sich der Sohn. „Verwandte von ihm waren nach Palästina gegangen, hatten dort aber keine Lebensgrundlage gefunden und waren zurückgekehrt.“ Die Mutter sucht um eine Reisegenehmigung nach. „Ich glaube, wir sind dafür zweimal nach Warschau gefahren. Aber sie hat keine Erlaubnis erhalten.“ Die dreiköpfige Familie muss in Radom bleiben – in der Falle.

Nahezu zur gleichen Zeit ist Geheimrat Dr. Gustav Sethe von der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amts in Berlin mit einer diffizilen Angelegenheit betraut. Er korrespondiert mit der US-Botschaft in Berlin und schickt Listen jüdischer Gefangener an Heinrich Himmler. Es geht um die Rückholung der Deutschen aus dem britischen Mandatsgebiet Palästina. Mehr als eintausend evangelische Pietisten, die im 19. Jahrhundert, einer Weissagung folgend, Deutschland verlassen hatten, sitzen seit Kriegsbeginn in Palästina fest. Die Templer, wie sie sich nennen, sind von den Briten als feindliche Ausländer in ihren landwirtschaftlichen Siedlungen interniert worden. Rund ein Drittel von ihnen sind Mitglieder der NSDAP, ein im Reich unerreichter Wert. Dr. Sethe vom Auswärtigen Amt soll diese „rassisch wertvollen“ Deutschen heim ins Reich holen.

Was aber hat das Großdeutsche Reich der britischen Seite anzubieten? Es geht um deren eigene Staatsbürger sowie Angehörige befreundeter Staaten, die in Deutschland festsitzen. Und dazu zählen eben auch palästinensische Juden, denn Palästina steht als Mandatsgebiet des Völkerbundes unter britischer Verwaltung. Nicht wenige der dort lebenden Juden sind bei Besuchen in ihrer alten Heimat in Europa vom Krieg überrascht worden und können nun nicht zurück. Die Jewish Agency, offizieller Vertreter jüdischer Interessen in Palästina, bemüht sich bei den Briten darum, dass diesen Menschen eine Möglichkeit zur Heimreise eröffnet wird.

Am 15. April 1940 geht im Berliner Auswärtigen Amt ein Memorandum der US-Botschaft ein, die beim Austausch zwischen den Kriegsgegnern Deutschland und Großbritannien vermitteln soll. „Die US-Botschaft wird nun darauf hingewiesen, dass eine Note des britischen Außenministeriums eine Liste derjenigen Palästinenser erbittet, die derzeit in Deutschland zurückgehalten sind und die eine Rückkehr nach Palästina wünschen“, heißt es dort in diplomatisch geschraubtem Englisch. Die Verhandlungen können beginnen. Die SS lässt in Polen, Frankreich, Belgien und Deutschland nach Juden palästinensischer Staatsangehörigkeit forschen, übersendet erste Listen an Geheimrat Sethe, der diese an die US-Botschaft weiterleitet. Von dort erreichen die Papiere die britischen Behörden, die entsprechend ausreisewillige Palästinadeutsche erfassen und deren Daten übermitteln.

Am 9. Dezember 1941 um 11.45 Uhr verlässt der erste Zug mit 46 Juden, darunter viele aus Deutschland, Wien in Richtung Türkei. Das Auswärtige Amt hat bei der Reichsbahn einen Sonderwagen bestellt, der an einen Fronturlauberzug nach Sofia angehängt wird. Drei Tage später erreichen die Menschen bei Edirne die türkische Grenze. Per Bahn geht es weiter nach Palästina. Im Gegenzug kommen 67 Palästinadeutsche und Schwestern eines Diakonissenhauses nach Deutschland.

Ein Polizeirat Merkel, der die Ausreise der Juden begleitet hat, resümiert in einem Schreiben an das Auswärtige Amt: „Das Verhalten aller Transportteilnehmer war im Allgemeinen korrekt. Die allgemeine Ordnung und Sauberkeit ließ teilweise zu wünschen übrig. Da es sich um englische Austauschpersonen handelte, ist, um ungünstige Rückwirkungen auf die auszutauschenden deutschen Staatsangehörigen unbedingt zu vermeiden, auf äußerste korrekte Behandlung der Transportierenden Wert gelegt worden.“

Für Menschen wie den nun 14-jährigen Israel Sumer Korman in Radom bleibt dieser Weg verschlossen. Auch den Briten geht es nicht darum, verfolgte Juden zu retten. Es handelt sich um einen Austausch von eigenen Staatsbürgern. Die Kormans sind Polen. Ihre Rettung ist nicht vorgesehen.

Die noch halbwegs geordneten Lebensverhältnisse der Familie finden Anfang April 1941 ein jähes Ende. Die Nazis zwingen die Radomer Juden in zwei Ghettos, ein großes in der Altstadt, das kleinere im Vorort Glinice. Mehr als 33.000 Menschen werden auf engstem Raum eingepfercht. Mordechai Kormans Laden wird von einem Deutschen übernommen. In der neuen Wohnung im großen Ghetto leben die Kormans mit zwei weiteren Familien in äußerst beengten Verhältnissen. Ian Korman kann sich nicht erinnern, Hunger gelitten zu haben: „Das ging. Wir hatten offenbar genügend Geld.“ Doch die meisten Menschen haben nicht genug zu essen. Seuchen breiten sich aus. In Radom treten im Herbst 1941 allein 440 Fälle von Fleckfieber auf.

Anfangs war das Ghetto noch nicht streng bewacht. „Da gab es Jungs, die rausgegangen sind, um Lebensmittel hereinzuschmuggeln. Und die Deutschen haben sie erwischt und nahmen ihnen die Sachen weg. Es gab nicht genug zu essen. Ich sehe noch vor mir, wie die Leichen der Verhungerten zum Friedhof gebracht wurden.“

Am 11. Dezember 1941 erlassen die Nazis eine Verordnung, die an den Straßen des Ghettos angeschlagen wird: „Juden, die den ihnen zugewiesenen Wohnort unbefugt verlassen, werden mit dem Tode bestraft. Die gleiche Strafe betrifft diejenigen Personen, die solchen Juden wissentlich Unterschlupf gewähren.“ Außerhalb des Ghettos gefasste Juden werden festgenommen und bei Massenexekutionen ermordet. Allein zwischen April und August 1942 sind dort neun solcher Mordaktionen bezeugt, bei denen jeweils Dutzende Menschen erschossen wurden.

„Sogar im Ghetto hatten die Menschen noch Hoffnung“, sagt Ian Korman. „Hoffnung, dass sich die Dinge wieder verändern und besser werden würden.“ Der junge Korman besitzt ein Privileg: Zwar ist der normale Schulbesuch Juden schon seit 1939 streng verboten, und auch Israel Sumer darf das Gymnasium, für das er sich 1939 qualifiziert hatte, nie besuchen. Doch die Mutter bringt ihn in einer Handwerksschule unter, die Handwerker für die deutsche Industrie ausbildet. „Wir bekamen eine Schlosserausbildung“, berichtet er. Und da sich die Schule außerhalb des Ghettos befindet, erhält Israel Sumer einen speziellen Ausweis, der ihm den Gang zur Schule erlaubt. Auch sein Vater und sein Onkel Schlomo besitzen solche Ausweise, weil sie zur Zwangsarbeit gehen müssen. Die Mutter nicht.

In Berlin, London, Madrid und Jerusalem laufen unterdessen die Vorbereitungen zu einem zweiten, größeren Austausch zwischen palästinensischen Juden und deutschen Templern. Erneut werden Listen erstellt, fahndet die SS nach austauschfähigen Juden. Die US-Botschaft steht zur Vermittlung nicht länger zur Verfügung, denn seit dem 11. Dezember 1941 befinden sich auch die Vereinigten Staaten im Krieg mit Deutschland. An ihrer statt springt die Schweizerische Gesandtschaft in Berlin ein. Das Auswärtige Amt in Berlin drängt zur Eile, denn im Sommer 1941 haben die Briten 665 wehrfähige Deutsche mit ihren Familien aus Palästina ins ferne Australien gebracht.

Die Briten wollen die Palästinadeutschen loswerden. General Rommel steht in Nordafrika kurz vor dem Sieg. Deutsche Truppen könnten schon bald in Palästina einfallen, und die dort lebenden Deutschen würden dann als fünfte Kolonne bereitstehen, so die Befürchtung der Alliierten. Tatsächlich hat die SS, wie sich erst jüngst herausstellte, damals bereits eine Einsatzgruppe aufgestellt, um die Juden Palästinas zu töten.

Die Nazis haben längst die Ermordung aller Juden beschlossen. Schon seit dem Einmarsch in die Sowjetunion im Juni 1941 werden dort Juden systematisch durch Massenexekutionen getötet. In Polen beginnen im Herbst 1941 die Arbeiten zur Errichtung der Vernichtungslager Belzec, Chelmno und Sobibor. Mitte März 1942 beginnen die Massenmorde an den Juden aus Lublin und Lemberg in Belzec. Sobibor ist im Mai fertiggestellt, zum selben Zeitpunkt wird das größte Vernichtungslager Treblinka erbaut. Ab Frühjahr 1942 sind die Gaskammern von Auschwitz in Betrieb. Die in Ghettos isolierte jüdische Bevölkerung wird mit Hilfe der Reichsbahn in die Lager deportiert und dort meist sofort getötet.

Über den 16. August 1942 in Radom möchte Ian Korman nichts erzählen. Er kann es nicht. „Ich erinnere mich an diesen Tag als den furchtbarsten Tag in meinem ganzen Leben“, sagt er.

Die Urteilsbegründung des Schwurgerichts Hamburg aus dem Jahr 1973 im Prozess gegen Hermann Weinrich, 1942 Stabsangehöriger beim SS- und Polizeiführer von Radom, hält fest: „Am Sonntag, dem 16. August 1942, umstellten abends Einheiten u. a. der deutschen Schutzpolizei das Große Ghetto. Etwa gegen Mitternacht begannen SS-Leute und Angehörige des jüdischen Ordnungsdienstes, die Juden mit lauten Rufen aufzufordern, aus ihren Wohnungen herauszukommen. Unter Schreien und Schlagen wurden die Juden von SS-Leuten auf den Platz Stare Miasto getrieben. Wer nicht schnell genug laufen konnte oder hinfiel, wurde rücksichtslos erschossen. Auf dem Platz Stare Miasto fand eine Selektion statt, deren Zweck es war, die Arbeitsfähigen, die in Radom bleiben sollten, von den nicht Arbeitsfähigen zu trennen, die für den Abtransport in ein Vernichtungslager bestimmt waren. Die Selektion wurde von SS-Leuten durchgeführt. Wer im Besitz einer Arbeitskarte war, wurde im Allgemeinen als arbeitsfähig angesehen. Die arbeitsfähigen Juden wurden in den Hof der an der Stare Miasto liegenden Gerberei Gelka gebracht. Die übrigen Juden dagegen wurden unter Bewachung teils zum Bahnhof, teils zu Bahngleisen in dem Fabrikgelände an der Mary-Wilska-Straße geführt und dort in bereitstehende Güterwagen verladen. Mindestens 100 der im Hof der Gerberei Gelka versammelten arbeitsfähigen Juden wurden gegen Morgen in den Penc-Garten geführt. Dort mussten sie große Gruben ausheben, die inzwischen herangebrachten, während der Aktion getöteten Juden entkleiden und schichtweise in die Gruben legen. Im Laufe des Vormittags wurden Gruppen von alten und gebrechlichen Juden herangeführt und bei den Gruben von SS-Leuten erschossen. Die Leichen wurden ebenfalls in die Gruben gelegt.“

Weinrich wird wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 600 Menschen zu 7 Jahren Haft verurteilt. Es ist eines der ganz wenigen Urteile über jene, die für den Massenmord von Radom verantwortlich sind, dem bis Kriegsende rund 30.000 der 33.000 in der Stadt lebenden Juden zum Opfer fallen. Israel Sumer Korman, sein Vater Mordechai und die Onkel Symcha und Schlomo besitzen Arbeitskarten. Sie dürfen bleiben. Die Mutter und fast alle anderen Verwandten nicht. Sie werden nach Treblinka deportiert und dort ermordet.

„Danach gab es keinen Platz mehr, wo man hingehen konnte“, erinnert sich Ian Korman. „Ich war von allen getrennt. Es gab nur noch vier von uns: meinen Vater, meine beiden Onkel und mich.“ Das Ghetto existiert nicht mehr. Der 15-jährige Israel Sumer wird zur Zwangsarbeit in der riesigen Radomer Waffenfabrik eingeteilt: „Niemand hatte mehr eine Wohnung. Alles war weg. Das war das Ende. Wir gingen vom Sammelplatz zur Waffenfabrik, das waren etwa 20 Minuten. Onkel Symcha hatte Verbindungen. Dadurch bekam ich dort auf der Stelle einen Job.“ Wer nicht arbeitet, wird von den Deutschen sofort umgebracht.

Etwa 1.000 jüdische Zwangsarbeiter arbeiten in der Fabrik, Seite an Seite mit Polen. „Meine Arbeit bestand darin, ein Stück Metall in den Griff einer Pistole einzuführen.“ Der junge Korman schläft nicht wie die anderen im nahen Arbeitslager, sondern in der Fabrik selbst. „Es gab kein Bett. Wir bekamen ziemlich schlechtes Essen. Ich war immer hungrig. Niemand hatte mehr Hoffnungen. Jeder dachte nur daran, seine persönliche Situation zu verbessern. Und sei es nur ein bisschen.“

Die Waffenfabrik nahe dem Radomer Bahnhof mit ihren alten Industriehallen steht auch heute noch. In diesem Jahr musste sie Konkurs anmelden. Das Inventar soll versteigert werden. Ein Wächter weist den unangemeldeten Besucher am Eingang ab.

Die kopfsteingepflasterten Straßen des ehemaligen Ghettos sind holprig und eng. Unvorstellbar, dass in diesem winzigen Gebiet einmal 33.000 Menschen eingeschlossen waren. Die meisten der Gebäude stehen leer. Die Eingänge des Hauses Grodzkastraße 8, wo der Jüdische Ältestenrat seinen Sitz hatte, sind zugemauert. Viele Häuser sind abgerissen, tiefe Gruben gähnen zwischen baufälligen Gebäuden. Das Haus Peretzastraße 3 steht noch, nur heißt die Straße jetzt anders. Hier haben die Kormans im Ghetto gelebt. Das Nachbargebäude ist ausgebrannt. Davor steht ein kleines Denkmal. „Den Juden von Radom, Opfer der Hitler-Verbrechen“, lautet die Inschrift auf Polnisch und Hebräisch.

In den ehemaligen Laden der Kormans in der Zeromskiegostraße ist eine Bank eingezogen. Das dreigeschossige Gebäude in der Fußgängerzone ist schön renoviert, die Fassade frisch gestrichen. Im ersten Stock links, hinter sieben Fenstern, befand sich die Wohnung der Familie. Gardinen hängen dort, andere Menschen leben hier.

Vor ein paar Jahren hat Ian Korman noch einmal Radom besucht: „Ich hatte nicht das Gefühl, nach Hause zu kommen. Es gibt dort keine Juden mehr. Wir gingen zum ehemaligen Jüdischen Ghetto. Da kamen Polen, die uns zuriefen: ‚Juden, haut ab!‘ Es waren Betrunkene.“

Geheimrat Gustav Sethe vom Auswärtigen Amt hat im Herbst 1942 ein Problem: Bei der Suche nach palästinensischen Juden lautet die Antwort der SS immer häufiger, diese seien „unbekannt verzogen“. Am 16. Oktober schreibt etwa das Büro des Reichsführers-SS an das Auswärtige Amt: „Nach den getroffenen Feststellungen ist der palästinensische Staatsangehörige Oded Amarant in Lemberg weder ausländerpolizeilich erfasst noch polizeilich gemeldet. Sein gegenwärtiger Aufenthalt konnte auch nicht ermittelt werden.“

Manche der Juden waren Monate zuvor bei den britischen Behörden bereits als mögliche Kandidaten für den Austausch angezeigt worden. Die Schweiz verlangt Erklärungen: „Die Schweizerische Gesandtschaft beehrt sich, die Aufmerksamkeit des Auswärtigen Amtes des Deutschen Reichs darauf zu lenken, dass zu den für den deutsch-palästinensischen Austausch vorgesehenen, jedoch bisher nicht ermittelten Personen auch der palästinensische Staatsangehörige Oded Amarant, geboren am 22. August 1935 in Tel Aviv, gehört“, lautet ein Schreiben. Die Briten sind zum Austausch nicht bereit, solange die Deutschen keine verbindliche Liste der Ausreisenden vorlegen. Der geplante Termin lässt sich nicht länger halten, die ganze Aktion droht zu platzen.

Sethe schickt ein Fernschreiben an den Vertreter des Auswärtigen Amts bei der Regierung des Generalgouvernements: „Englische Regierung hat bereits wiederholt vollständige Liste der deutscherseits zum Austausch zugelassenen Personen angemahnt, die mit Rücksicht auf Fehlen der in Warschau befindlichen palästinensischen Staatsangehörigen noch nicht übermittelt werden konnte.“ Er bittet, „mit allen Mitteln Überprüfung der in Warschau befindlichen palästinensischen Staatsangehörigen“ sicherzustellen.

Am 23. Oktober liegt die Antwort in Berlin vor: „Die angegebene Zahl der zum Austausch geeigneten Juden aus Warschau stammt aus einer vor Jahresfrist erfolgten Erfassung. Nach der im hiesigen Ghetto erfolgten Umsiedlungsaktion sind die jetzt durchgeführten Ermittlungen nach den in den angeführten Erlassen genannten Personen erfolglos geblieben.“ Von den Massenmorden ist in den Akten des Auswärtigen Amts selbstverständlich nicht die Rede. Und auch das Wort „Umsiedlungsaktionen“ als Tarnung für die Deportation von Millionen Menschen taucht in den tausenden erhalten gebliebenen vergilbten Blättern nur ein einziges Mal auf – hier.

Oded Amarant, sieben Jahre alt, ist tot, wie all die anderen vermissten Austauschkandidaten. Das Auswärtige Amt macht sich verdächtig früh – seit dem Frühjahr 1942 – daran, geeigneten Ersatz zu finden, als wüsste man um die Unmöglichkeit weiterer Suche. Die palästinensische Herkunft ist nicht länger zwingende Bedingung für die Ausreise. In Berlin hofft man, auch andere Personen, die zumindest irgendeine Beziehung zu Palästina besitzen, würden von den Briten anerkannt werden.

Israel Sumer Korman arbeitet zehn, zwölf Stunden am Tag in der Radomer Waffenfabrik. Er hungert. „Es gab Gewalttaten“, sagt er knapp. „Wenn die Menschen aus der Fabrik ins Arbeitslager gingen, sah ich, wie sie von den Volksdeutschen misshandelt wurden.“

Am 17. Juni 1942 geht beim Auswärtigen Amt ein Schreiben des Büros des Reichsführers-SS ein. „Nach einem Bericht des Kommandeurs der Sicherheitspolizei und des SD in Radom wurden weiterhin folgende Personen ermittelt, die für den Austausch in Frage kommen“, heißt es darin. Es folgt eine Liste mit 35 Namen. Unter 23. und 24. finden sich: „Korman, geborene Potaznik, Chana-Symcha, geboren am 12. 9. 1894 in Radom. Ist im Besitze des poln. Auslandspasses mit palästinensischem Rückreisevisum Nr. 8237. Ist lediglich mit ihrem Kinde besuchsweise nach Radom gekommen. 2 Söhne und 1 Schwester wohnen in Tel-Aviv, Faierbergstr. 20“, sowie „Korman, Izsrael-Sumer, geboren am 17. 6. 1927 in Radom.“ Als dieses Schreiben abgefasst wird, ist die Mutter noch am Leben. Erst zwei Monate später wird sie deportiert. Und ihr Sohn Israel Sumer ist, anders als behauptet, nie in seinem jungen Leben in Palästina gewesen.

Ian Korman erinnert sich: „Der Judenrat suchte im Mai oder Juni 1942 nach Menschen mit palästinensischer Staatsangehörigkeit. Soweit ich es verstanden habe, ging es auch um Leute, die ein Visum für Palästina besaßen. Meine Mutter besaß ein Return-Visum, sie kam aus Palästina nach Polen und hätte zurückkehren können. Wie ich meine Mutter kannte, wird sie insistiert haben, dass auch ihr Sohn registriert wurde.“

London will viele der in ihrem Sinne dubiosen Palästinajuden nicht zur Einreise zulassen. Eine Reiseerlaubnis erhalten ohnehin nur Frauen, Kinder und alte Männer, nicht aber mögliche „Waffenträger“. Ganze Familien werden abgewiesen. Schließlich stimmen die Briten in den meisten Fällen doch zu.

Ende Oktober 1942 holen die Deutschen Israel Sumer aus der Fabrik ab. Sein Vater und die beiden Onkel wissen Bescheid, es soll nach Palästina gehen. Andere Juden kommen dazu, ebenfalls Austauschkandidaten. „Wir saßen in einem hölzernen Krankenwagen mit einem Pferd davor und fuhren zum Gestapo-Hauptquartier“, berichtet er. „Wir gingen hinein und mussten uns in einer Reihe aufstellen. Ein Mann las alle Namen vor, und wer aufgerufen worden war, ging in ein anderes Zimmer. Am Schluss war nur noch ich übriggeblieben. Und der Gestapo-Mann fragte mich: ‚Wer bist du?‘ Ich sagte: ‚Ich bin Israel Sumer Korman.‘ Und er schaute sich die Liste an: ‚Ich habe Hannah Korman auf der Liste. Wo ist sie?‘ Ich antwortete: ‚Ich weiß nicht, wo sie ist.‘ Und der Gestapo-Mann sagte: ‚Du stehst nicht auf der Liste. Aber wenn du schon hier bist, dann kannst du auch mit.‘ Das war es. Das war der entscheidende Satz. Dann kamen andere SD-Männer. Wir gingen auf die Straße. Wir gingen auf dem Bürgersteig, was Juden sonst streng verboten war. Wir gingen zum Bahnhof. Wir bekamen etwas zu trinken, während wir auf den Zug warteten. Man hat uns behandelt wie Gäste – zum ersten Mal. Der SD-Mann besorgte uns zwei Abteile – und er kaufte für uns ein Hühnchen. Ich wusste nicht, ob das Huhn koscher war, aber wir haben auch nicht gefragt. Wir aßen und redeten und fuhren. Es ging nach Krakau.“

Der Mann, der das Huhn gekauft hat, heißt Franz Anker. Am 26. Oktober 1942 stellt der Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD im Distrikt Radom eine Bescheinigung aus: „SS-Hauptscharführer Franz Anker hat den Auftrag, nachstehend verzeichnete Personen, die in den deutsch-palästinensischen Austausch einbezogen werden sollen, nach Wien zu begleiten.“

Die potenziellen Mordopfer sind plötzlich wertvoll geworden, bekommen Speisen und Getränke und einen Sitzplatz im Zug. Dass es sich um Juden handelt, wird in der Bescheinigung gar nicht mehr erwähnt. Sie sind zu neutralen „Personen“ mutiert. Anker befiehlt ihnen, den Davidstern abzunehmen. „Schmeißt den Müll weg“, habe der SS-Mann gesagt, erinnert sich Korman. Die Liste der Reisenden aus dem Distrikt Radom umfasst 24 Menschen. Israel Sumer Korman steht an 14. Stelle. Seine Mutter ist nicht mehr verzeichnet.

Ian Korman berichtet weiter: „Das war ein ganz normaler Zug, mit einer Menge Polen in den Waggons. Nicht in unserem Abteil. Wir kamen nach Krakau. Dort warteten Juden aus der Umgebung. Der SD-Mann streckte seinen Kopf aus dem Fenster und rief ‚Palästina, Palästina!‘. Die Leute stiegen ein.“

Der Zug bringt die Gruppe mit SS-Hauptscharführer Franz Anker ohne Umsteigen nach Wien. Dort, ganz in der Nähe des Südbahnhofs, werden sie im Obdachlosenheim in der Gänsbachergasse 8 untergebracht. Wien ist vom Auswärtigen Amt zum Sammelpunkt für die Austauschgruppe bestimmt worden. Man übernachtet in großen Schlafsälen mit schneeweißer Bettwäsche. Es gibt Frühstück, Mittag- und Abendessen, alles aus einem großen Topf. Für die dem Tode entronnenen Juden ein großer Luxus.

„Später kam ein Mann vom Schweizer Konsulat“, erinnert sich Korman. „Er schrieb ein Papier aus und stempelte es, machte ein Foto. Dann kamen einige Deutsche, die jedem von uns zehn britische Pfund gaben.“ Dieses Reisegeld war keine NS-Liebesgabe, sondern das Ergebnis umständlicher diplomatischer Verhandlungen. Drei Wochen zuvor hatte die Schweizerische Gesandtschaft das Auswärtige Amt mit der britischen Entscheidung konfrontiert, dass „jedem deutschen Erwachsenen Bargeld im Gegenwert von zehn palästinensischen Pfund“ mitgegeben werden müsse. Darauf bittet das Auswärtige Amt das Reichswirtschaftsministerium um eine Devisenerwerbsgenehmigung, damit jedem Zugreisenden aus Deutschland die gleiche Summe mitgegeben werden kann.

Der Zugbetrieb in die Türkei ist im dritten Kriegsjahr längst eingestellt. Das Auswärtige Amt bestellt bei der Deutschen Reichsbahn einen Sonderzug, ordert zwei Speisewagen der Mitropa – die Verpflegung der „deutschen Heimkehrer“ soll „in selbstverständlich großzügigerem Maßstabe“ als für die Juden erfolgen, notiert Sethe. Die deutsche Botschaft in Ankara erreicht bei der neutralen Türkei die Genehmigung zur Fahrt des Zugs bis Istanbul, bemüht sich um Klärung der Weiterreise über die Bagdad-Bahn ins syrische Aleppo. Vereinbart wird, dass die Palästinadeutschen zum selben Zeitpunkt aus Syrien kommend in die Türkei einreisen wie die jüdischen Palästinenser von Bulgarien. Die Sonderzüge sollen bei der Rückfahrt die jeweils ausgetauschte Gruppe in die Heimat befördern.

Doch Sethe spielt mit gezinkten Karten. Am 5. November schreibt er an die deutsche Botschaft in Ankara: „Falls die am 9. 11. die syrisch-türkische Grenze überschreitende Palästinadeutschen-Gruppe nicht [die] vereinbarte Zahl von etwa 300 Reichsdeutschen umfasst, bitte, wenn möglich, umgehend Deutsche Gesandtschaft in Sofia zu verständigen, damit Zug mit Palästinagruppe aus Deutschland vor Überschreiten türkischer Grenze rechtzeitig angehalten werden kann.“ Dass man selbst deutlich weniger Menschen für den Austausch auffinden konnte, weil viele Juden längst ermordet worden sind, spielt für ihn keine große Rolle mehr. Schließlich hat das Auswärtige Amt der Schweiz die Zusicherung gegeben, weiter nach diesen „60 Jüdinnen aus Warschau und Radom“ zu suchen. „Mit Rücksicht auf diesen Sachverhalt wird angenommen, dass das Fehlen der erwähnten Jüdinnen aus dem Generalgouvernement nicht zu Schwierigkeiten bei der Durchführung des Austausches führen wird“, heißt es in einem internen Schreiben an Außenminister Ribbentrop.

Israel Sumer Korman durchstreift inzwischen mit anderen jungen Austauschkandidaten Wien. Sie dürfen sich tagsüber frei bewegen. Sie sind wertvoll. „Wir waren vollkommen frei“, erinnert er sich. „Wir fuhren Straßenbahn. Und sahen zum ersten Mal verletzte deutsche Soldaten. Da war ein Gefühl der Befriedigung: Es sind keine Übermenschen. Sie sind nicht unverwundbar.“

Bei ihren Spaziergängen sehen sie Wiener Juden: „Man sah die Juden mit ihren Davidsternen schon von weitem. Und wir sagten uns: ‚Lasst uns hingehen und mit ihnen sprechen.‘ Drei von uns gingen auf sie zu, aber sobald sie uns kommen sahen, rannten sie weg.“ Nur noch wenige tausend Juden leben Ende 1942 in Wien, zehntausende sind bereits von den Nazis in den Osten deportiert und dort ermordet worden.

Im britischen Gefangenenlager Athlit in Palästina warten unterdessen rund 300 Palästinadeutsche schon seit sechs Wochen auf die immer wieder verzögerte Ausreise. Athlit diente üblicherweise als Haftanstalt für Juden, die, den Nazis entflohen, illegal Palästina erreicht hatten.

„Eines Tages hieß es in Wien, es gehe am nächsten Tag los“, berichtet Ian Korman. „Die anderen Kinder hatten Vater und Mutter dabei. Ich hatte niemanden. Geh einfach hinter den anderen her, sagte ich mir. Ich hatte kein Heimweh. Aber ich besaß ein Bild meiner Mutter. Immer wenn ich allein war, sah ich das Bild an und musste weinen.“

Die endgültigen Transportlisten sind im Archiv des Auswärtigen Amts erhalten. Die Dokumente mit Datum vom 24. Oktober 1942 umfassen die Namen von 125 jüdischen und 46 anderen Personen. Doch immer wieder sind Namen durchgestrichen. Sura-Pesa Fuksbrunner aus Radom mit ihren beiden Kindern – gestrichen. Riwa Estera Lewin aus Bialystok – gestrichen. Und Chana-Symcha Korman aus Radom, die Mutter des jungen Israel Sumer – gestrichen. Von 125 Juden bleiben 69. Die anderen sind tot. Am Ende der Papiere prangt ein Sammelvisum. „Sichtvermerk für 125 Teilnehmer für einmalige Ausreise aus dem Reichsgebiet über jede amtlich zugelassene deutsche Grenzübergangsstelle“ heißt es da, und: „Zielland: Türkei“.

Der Luxuszug erreicht am 9. November 1942 über Nebenstrecken Belgrad. „In jeder Station standen Soldaten, einer neben dem anderen“, erinnert sich Korman. „Als wir auf türkischen Boden kamen, war alles erleuchtet. Ganz Europa war wegen der Luftangriffe dunkel. In Istanbul glänzten die Lichter!“ Auf der Fähre, die die Gesellschaft abends über den Bosporus zum Istanbuler Bahnhof Haydarpascha auf der asiatischen Seite bringt, brandet plötzlich Jubel auf: Die Erwachsenen haben eine französischsprachige Zeitung gekauft und lesen, dass die Vichy-Armee im Nahen Osten von den Alliierten geschlagen worden ist. Damit ist eine der Bedrohungen für die Juden Palästinas verschwunden.

Zur gleichen Zeit erreicht ein Sonderzug aus Syrien mit den Palästinadeutschen die türkische Metropole. Am 12. November um 0.15 Uhr geht ein Telegramm vom deutschen Konsulat an das Berliner Auswärtige Amt ab: „Dreihundertein Palästina-Heimkehrer verließen Istanbul wohlbehalten dreiundzwanzig Uhr.“ Der Austausch hat geklappt.

Im Bahnhof Istanbul-Haydarpascha aber wird Israel Sumer Korman noch am Zug von jungen Männern beiseitegenommen. Es sind Juden aus Palästina, Mitarbeiter der Jewish Agency, die sich um das Kind sorgen. „Während die Engländer durch den Zug gingen und die Pässe kontrollierten, holten sie mich heraus“, berichtet Korman. Offenbar ist die Einreise nach Palästina zwar der von den Nazis ermordeten Mutter Korman mit Kind erlaubt, nicht aber dem Kind allein. „Nach der Kontrolle brachten sie mich zum Ende des Zugs und ließen mich wieder einsteigen.“

Die blauen Wagen des Taurus-Express bringen die Menschen quer durch die Türkei nach Syrien und in eine andere Welt. Korman: „Das Essen im Speisewagen war für uns ungewohnt. Sie servierten uns Oliven, das hatte ich noch nie im Leben gesehen. Und es gab Lammzunge, schockierend! Doch ich bin sicher, dass wir am Ende alles gegessen haben.“

Davon, dass sie Objekt eines international organisierten Austauschs sind, haben die Leute keine Ahnung. Die meisten glauben, sie seien aufgrund der Bitten ihrer jüdisch-palästinensischen Verwandtschaft freigekommen. „Im syrischen Aleppo reichten uns britische Soldaten Tee mit Milch aus großen Kübeln“, ist Korman im Gedächtnis geblieben. „Wir wechselten den Zug. Wir fuhren und fuhren. Mir war nie langweilig. Es war meine erste große Reise. Es gab Essen, der Zug war komfortabel, und die Menschen behandelten dich freundlich. Es ging nach Palästina, und dort würde ich meine Brüder sehen.“

Das letzte Stück Weges bringt ein Bus die Reisenden nach Athlit in Palästina. In dasselbe Lager, in dem zuvor die Palästinadeutschen auf ihre Ausreise gewartet hatten. Diese sind von den Nazis inzwischen bei ihrer Ankunft in Wien mit Musikkapellen und Ansprachen empfangen worden: „Ein Musikzug des Reichsarbeitsdienstes spielte die Lieder der Nation, und aus allen Fenstern der Waggons grüßten die zum Deutschen Gruß erhobenen Hände“, schreibt die Zeitung Wiener Mittag.

Der Empfang für Israel Sumer Korman in Palästina fällt weniger großartig aus. „Wir kamen in das Lager und wurden eingeschlossen. Die Briten befürchteten Spione. Einer meiner Brüder kam nach Athlit und sah mich dort durch das Gitter. Sie ließen ihn nicht herein und sagten ihm, dass ich kein Visum hätte und deshalb nicht nach Palästina einreisen dürfe.“ Weil die Mutter ermordet wurde, soll das Kind kein Recht zum Leben in Palästina haben.

Der Bruder fährt in die Hauptstadt Jerusalem, setzt Himmel und Hölle in Bewegung. Schließlich erbarmt sich die für die Erteilung von Kindervisa zuständige Stelle. Israel Sumer Korman ist endgültig gerettet. An der australischen Goldküste liest der heute 79-Jährige mit klarer Stimme aus dem lebensrettenden Papier vor: „Korman, Israel, geboren: 15 Jahre alt, angekommen: ausgetauscht aus Polen, erhielt ein Ausbildungszertifikat. Athlit, den 26. November 1942.“

Israel Sumer Korman zieht in die winzige Wohnung seiner Brüder in Tel Aviv. „Wir feierten, und wir waren traurig wegen unserer Mutter. Ich war instinktiv sicher, dass sie nicht mehr am Leben war.“ Wie die anderen Eingereisten auch erzählt der 15-Jährige von den Nazi-Aktionen in Polen. Erstmals werden in Palästina infolge dieser Berichte Einzelheiten über die Vernichtung der europäischen Juden bekannt. Die Menschen sind entsetzt. Und den Führern der jüdischen Gemeinschaft wird klar, dass nicht länger Millionen Juden vor den Nazis zu retten sind – weil es sie nicht mehr gibt. Warum aber die Deutschen überhaupt das Risiko eingehen, dass der systematische Judenmord durch den Austausch bekannt wird, bleibt bis heute im Unklaren. Konsequenzen haben die Enthüllungen nicht: Obwohl die Alliierten auch durch andere Quellen über die Judenvernichtung informiert sind, unterbleiben Angriffe auf die Nazi-Mordstätten.

Für Israel Sumer Korman und die anderen Geretteten ist der Krieg beendet. Doch die Ungewissheit über das Schicksal der Familie bleibt: Keinerlei Nachrichten aus Radom kommen in Palästina an. Was ist aus dem Vater und den Onkeln geworden? Ist die Mutter wirklich tot? Etwa 2.000 bis 3.000 Juden vegetieren Ende 1942 in Radom bei härtester Zwangsarbeit und winzigen Essensrationen. Wer nicht mehr arbeiten kann, wird erschossen. Am 13. Januar 1943 werden bei der nächsten Selektion über 600 Menschen nach Treblinka geschickt und dort ermordet.

Der gelungene Palästina-Austausch von Israel Sumer Korman und den anderen Juden wird zur Tarnung des nächsten Massenmordes genutzt. Akten der Hamburger Staatsanwaltschaft von 1971 über einige der Täter geben Auskunft: Danach sind die Radomer Juden um den Jahreswechsel 1942/43 erneut dazu aufgerufen, sich in Listen für eine Ausreise ins Gelobte Land einzutragen. Etwa hundert Menschen melden sich. Schließlich haben sie über Umwege von der Ankunft der 69 Menschen vor einigen Monaten in Palästina erfahren. Am 21. März 1943, dem Tag des jüdischen Purim-Festes, werden die vorgeblichen Palästina-Reisenden außerhalb des Ghettos versammelt. Um sie in Sicherheit zu wiegen, dürfen sie sogar Reisegepäck mit sich führen. Die Menschen besteigen die bereitgestellten Lastwagen.

Die Reise endet nach nur 30 Kilometern am jüdischen Friedhof der Kleinstadt Szydłowiec. Die Menschen müssen ihr Gepäck abliefern, eine Gruppe Männer wird gezwungen, mit Schaufeln und Spaten Massengräber auszuheben. Dann werden die Juden von ukrainischen Nazi-Helfern erschossen. Nur einer Handvoll Menschen gelingt es, sich beim Leiter der Mordaktion, SS-Untersturmführer Erich Kapke, ihr Weiterleben zu erbetteln. Kapke bringt sie tatsächlich nach Radom zurück.

Erst nach dem Krieg erfahren die drei Korman-Brüder in Tel Aviv vom Schicksal ihrer Angehörigen. Izaak Korman, der sich jetzt Les nennt, schreibt in seinen Erinnerungen: „Wir unternahmen eine Reihe von Versuchen, um herauszufinden, ob Vater den Krieg überlebt hatte und ob es noch irgendeine Hoffnung für Mutter gab. Keine Antwort wegen der Mutter. Doch eines Tages erhielten wir Post. Die UN informierten uns, dass Vater den Krieg überlebt habe und dass er mit Onkel Schlomo zusammen sei.“ Onkel Symcha hat nicht überlebt. Der Vater Mordechai Korman wird in München-Allach von den Amerikanern befreit.

Der schnelle Vormarsch der Roten Armee 1943/44 ist für die wenigen verbliebenen Radomer Juden die Rettung. Nun wird jede verfügbare Arbeitskraft benötigt, und deshalb kommt es nicht mehr zur von Adolf Hitler am 19. Juli 1943 angeordneten Ermordung der letzten noch Lebenden. Trotzdem sterben noch mehr als die Hälfte der Menschen auf ihrem erzwungen Transport von Lager zu Lager, nach Auschwitz – wo Arbeitsunfähige und Frauen ermordet werden – und weiter nach Vaihingen/Enz und Dachau bei München.

„Mein Bruder Mosche besuchte Vater in München“, erinnert sich Ian Korman. „Wir hatten Verwandte in Australien, und so ging mein Vater direkt nach Australien. Mein Bruder Les folgte ihm.“ Viele Holocaust-Überlebende zieht es in den fünften Kontinent, so weit wie möglich von den Schrecken Europas entfernt. Mehr als 25.000 Menschen finden dort eine neue Heimat – angesichts von nur 8,3 Millionen Einwohnern, die Australien im Jahre 1950 hat, eine sehr große Zahl.

Australier hatte Israel Sumer Korman zum ersten Mal bei seinem Austausch nach Palästina kennengelernt: „Wir saßen im Zug mit einer australischen Frau, die auch ausgetauscht wurde. Man unterhielt sich auf Englisch. Ich verstand nichts. Aber plötzlich schrie die Frau einen Engländer an und war sehr aufgebracht. Ich fragte, was passiert sei. Ein Junge erzählte mir, der Engländer habe sie gefragt, ob ich auch so ein dreckiger Jude sei. Deswegen war die Frau so erbost. Diese Episode hat mit dazu geführt, dass ich Australien liebe.“

Doch statt auf den fünften Kontinent kommt Israel Sumer Korman zunächst zur Haganah, dem Vorläufer der israelischen Armee in Palästina. Es sind schwierige Zeiten: Die arabische Guerilla kämpft gegen die eingewanderten Juden, die Zionisten bereiten die Gründung des Staates Israel vor. Weil er einen Offizier mit Aspirin behandelt, wird Korman zum Sanitäter ernannt: „Deshalb erhielt ich statt eines Gewehrs eine Pistole. Ich setzte mich hin und sah sie mir an: Es war eine ‚Vis‘ aus der Radomer Waffenfabrik. Vielleicht hatte ich sie selbst gebaut. Es war genau das Modell, mit dem Schriftzug ‚Vis Fabrika Radom‘.“ Waffen wurden damals häufig von der Hagana in Osteuropa gekauft.

1948, im israelischen Unabhängigkeitskrieg, muss Korman zur Armee: Er wird Soldat Nummer 18002, arbeitet die meiste Zeit in einer Reparaturwerkstatt. Im gleichen Jahr heiratet der 21-Jährige. Die erste Tochter, Hannah, wird geboren. 1953 geht die junge Familie nach Australien: „Meine damalige Frau war noch nie aus Palästina herausgekommen. Sie wollte wissen, wie das Leben in der Fremde ist. Das war der wichtigste Grund für unsere Emigration.“

Ian Korman findet Arbeit im Textilunternehmen des Bruders in Melbourne; auch der Vater ist dort beschäftigt. Fünf weitere Kinder werden geboren: Ron, Jonny, Sharon, Mark und Donny. Ian Korman macht sich mit einer eigenen Textilfabrik selbstständig, expandiert, verdient gut. Um neue Modetrends kennenzulernen, reist er in die USA und nach Italien. Sogar in die junge Bundesrepublik: „Ich hatte keine Probleme damit, nach Deutschland zu reisen und in die Läden zu gehen, um zu sehen, was sie dort für eine Mode anboten.“ Ian Korman will den Krieg vergessen.

Nach seiner Pensionierung holt Korman nach, was die Nazis ihm unmöglich gemacht hatten. Er studiert Jüdische Geschichte, Frühchristliche Theologie und Archäologie, erwirbt einen akademischen Grad. Mit seiner zweiten Frau, Lesley, einer Australierin, zieht er 1989 wieder nach Israel, arbeitet dort bei einem Bauunternehmen. Die beginnende Intifada der Palästinenser lässt sie nach Australien zurückkehren. „Ich bin australischer Jude mit engen Bindungen an Israel“, sagt Korman. „Und ich bin einer der glücklichsten Menschen der Welt. Abgesehen vom Verlust meiner Mutter hatte ich mein ganzes Leben lang Glück. Ich bin den höheren Mächten wirklich dankbar – wer immer da oben für all das zuständig ist. Ich lebe unter einem glücklichen Stern.“

Erst seine zweite Frau bringt Ian Korman dazu, sich wieder mit der Vergangenheit, mit Radom, den Nazis und dem Austausch zu beschäftigen. Die Geschichte seiner Rettung soll nicht verlorengehen. Deshalb schreibt er sie jetzt für seine Kinder und Enkel auf, deshalb ist er bereit zu dem Gespräch mit dem deutschen Journalisten.

Hat er die Deutschen nicht gehasst für das, was sie ihm angetan haben? Ian Korman überlegt lange, bis er eine Antwort gibt: „Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Es ist eben passiert. Es ist wohl so, dass ich von Natur aus nicht besonders nachtragend bin. Ich würde gern behaupten, dass ich Rache in mir fühle. Aber ich fühle keine. Vielleicht ist das unnatürlich. Ich glaube, die meisten Nazi-Führer haben für das bezahlt, was passiert ist. Und die neue Generation Deutscher, die ich kennengelernt habe, hat aus der Geschichte gelernt. Eine Sache aber gibt es: Ich möchte kein deutsches Auto fahren.“

KLAUS HILLENBRAND, geboren 1957, ist Chef vom Dienst bei der taz