hier spricht der bürgermeister
: Die kleine Dialektik der Straßen

Es geht um die Frage, welche gesellschaftspolitische Bedeutung wir der „68er-Bewegung“ noch einräumen

Diesen Sonntag findet in Friedrichshain-Kreuzberg eine Premiere statt. Alle Wahlberechtigten ab 16 Jahren im Bezirk sind aufgerufen, durch einen „Bürgerentscheid“ zu klären, ob ein Abschnitt der Kochstraße in „Rudi-Dutschke-Straße“ umbenannt wird oder nicht.

Ich halte es für richtig und gut, dass damit die Bürger das letzte Wort haben. Weil es eben nicht darum geht, ob durch diese Umbenennung ein paar Anlieger oder der Springer-Verlag ihre Visitenkarten und Briefköpfe neu drucken müssen. Das könnte auch das Bezirksparlament entscheiden.

In diesem „Bürgerentscheid“ geht es im Kern vielmehr um die Frage, welche gesellschaftspolitische Bedeutung wir der „68er-Bewegung“ noch einräumen. Ich bin der Überzeugung, dass bei aller Kritik an vielen Einzelpunkten die „68er-Bewegung“ den überfälligen Transformationsprozess der Bundesrepublik von einer verknöcherten, repressiven und ideologisch eindimensionalen Gesellschaft in eine offenere Gesellschaft ermöglicht hat. Auch wenn viele der damaligen Visionen heute strittig sind, so profitieren wir heute dennoch ganz selbstverständlich davon.

Rudi Dutschke war einer der charismatischen Sprecher der „68er-Bewegung“. Man würde ihm und seinem politischen Wirken nicht gerecht werden, ihn heroisch zu mystifizieren oder ihn verharmlosend als Urvater der Bürgerinitiativen zu deuten. Rudi Dutschke verstand sich als Revolutionär, der schonungslos und kämpferisch die herrschenden Gesellschaftsverhältnisse in Frage stellte. Das führte zwangsläufig zum Konflikt mit dem Meinungsmonopol der Springer-Zeitungen. Und die saßen in der Kochstraße und verteidigten von dort verbissen den alten repressiven Adenauer-Staat.

Vor einigen Jahren gelang es diesem Verlag, in einem politischen Handstreich einen Abschnitt der Lindenstraße in „Axel-Springer-Straße“ umzubenennen. Am Sonntag können die Bürger in einem basisdemokratischen Akt einen Teilabschnitt der Kochstraße in „Rudi-Dutschke-Straße“ umbenennen. Beide würden dann aneinanderstoßen – wie früher, als Widerspruch von Meinungsmonopol und Gegenöffentlichkeit. Eine kleine Dialektik der Straßen.

Gehen Sie wählen und bedenken Sie: Wenn Sie „Rudi-Dutschke-Straße“ wollen, müssen Siemit Nein stimmen. FRANZ SCHULZ

Franz Schulz (Grüne) ist Bürgermeister des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg