: Leben mit dem Leberwurstbaum
Wer Mut genug aufbringt, wird Pflanzenpate im Botanischen Garten von Berlin-Dahlem
Den Botanischen Garten von Berlin-Dahlem zu durchschreiten, erfordert viel Zeit. Auf schön krumm angelegten Wegen geht man meilenweit durch Mischwälder mit fremden Bäumen aus befreundeten Klimazonen, passiert heimischen, kniehohen Dschungel, der auf unbegärtnerten Wiesen wuchert, und kraxelt an pompösen Mohnblumen vorbei durch ausgeklügelt behauene Felsenlandschaften.
Wer den richtigen Pfad nimmt, erlebt eine Überraschung: Erst im letzten Moment wird der Blick frei auf das 100 Jahre alte Große Tropenhaus, seine Nebengebäude sowie das vorgelagerte Bassin mit stimmgewaltiger Froschkolonie. Man erklimmt noch ein paar Stufen und läuft versehentlich am Eingang vorbei. Dann aber beginnt der Rundgang durch die Schauhäuser, und während dieser Exkursion wird sich zeigen, dass hier mehr gedeiht als kälteempfindliche Flora.
Auf insgesamt 14 Gewächshäuser und zwei Anbauten verteilt, sammelt sich unter Glas alles, was in der Botanik Rang und Namen hat – von Begonien, Orchideen und subtropischen Farnen über Kakteen und fleischfressende Pflanzen bis hin zu Sumpfgewächsen. Neben jeder Pflanze steckt ein Namensschild mit deren lateinischer und deutscher Bezeichnung in der Erde. An manchen Stellen ist jedoch noch ein zweites Schild zu finden: das des Pflanzenpaten.
Pate kann jeder werden, der dem Botanischen Garten jährlich einen Betrag zwischen 250 und 1.500 Euro stiftet und so zum Beispiel hilft, zusätzliche Gärtner zu bezahlen, Düngemittel einzukaufen oder die bedrohlich steigenden Heizungs- und Wasserrechnungen zu begleichen. Im Gegenzug darf sich der Gönner aussuchen, welcher Pflanze er zur Seite steht. 81 solcher Patenschaften zählt der Botanische Garten im laufenden Jahr, darunter die des Paten der ersten Stunde: So spendet der Fernsehkomiker Wigald Boning regelmäßig für seinen Schützling, einen zarten und unerwartet bescheiden daherkommenden Borstenfarn.
Andere Freunde des Grüns ziehen klangvollere Namen vor. So ist selbstverständlich ein Juwelier Pflanzenpate der Goldtrompete, und die Königin-Maria-Lanzenrosette erhält Unterstützung durch keinen Geringeren als einen Grafen Einsiedel. Auch der prächtige Kakaobaum, die urwüchsige antarktische Dicksonie und die üppige dichtblütige Akazie erfahren Anerkennung und Zuneigung, wie ihre Beschilderung zeigt.
Wie aber ergeht es den weniger attraktiven Bewohnern des Botanischen Gartens? Die Pflanzenwelt – Wahrheit-Leser werden sich an Michael Sailers schonungslosen Bericht über sein Experiment mit einem Avocadokern erinnern (Die Wahrheit vom 30. 10. 2002) – ist voll von missgestalteten und oft auch noch unglücklich getauften Arten. Man muss lange suchen, bis man auf ein Schild wie das der Pflanzenpatengruppe „Jörg Scheuermann und Freunde“ stößt. Die bekennt sich mutig zu einem stachelbewehrten Kaktus, und das stelle man sich bitte nicht zu leicht vor. Wie viel einfacher hätte es sich Herr Scheuermann machen können, wäre er im Freundeskreis für das Niedliche Odentoglossum oder den Majestätischen Pfeffer sammeln gegangen! Stattdessen warb dieser tapfere Mann für den Gedrückten Warzenkaktus, ohne Angst vor Gesichtsverlust.
Es braucht mehr solcher entschlossener Paten: Männer, die ihre schützenden Hände über einen Puderquastenstrauch halten; Frauen, die sich der Überzähligen Maxillarie annehmen. Auch das Nachgeborene Fettkraut und die Rote Schlauchpflanze sind noch unbetreut. Außerdem – Atomkraftgegner, aufgemerkt! – ließe sich Verantwortung für Wendlands Blattfahne übernehmen oder, werte Heimwerker, für Hornes Schraubenbaum und das Orangerote Glanzkölbchen.
Viel dringlicher ist jedoch, den Leberwurstbaum aus seiner Isolation zu holen. Sicher, ein schwieriger Fall, muten doch seine Früchte kaum wie pralle Würste an, sondern eher wie ausgedrückte Pellen. Erschwerend kommt hinzu, dass der Leberwurstbaum nachts einen kohlähnlichen Geruch verströmt. Andererseits ist kein Pate verpflichtet, seine Pflanze nach Hause einzuladen; weder in den Ferien, noch über Weihnachten.
CAROLA RÖNNEBURG