„Uns fehlen die Tresorknacker“

Klaus Lange-Lehngut

„Einige Gefangene haben regelrechte Angst davor, hier eines Tages wieder rauszumüssen. Es gab mal einen Gefangenen, den konnten wir nur mit Tricks an die frische Luft setzen“„In den 70er-Jahren sollte ich mal entführt werden. Mehrere Leute, die sich schwarze Boxerbande nannten, versuchten, mich in ein Auto zu zerren. Nur weil ein Taxi vorbeikam und ich mich gewehrt habe, ließen sie von mir ab“

Die Justizvollzugsanstalt Tegel ist Deutschlands größter Knast. 1.700 Gefangene aus 60 Nationen sind in dem über 100 Jahre alten Männergefängnis untergebracht. Drogen, Aggressionen und Überbelegung machen die Arbeit mit den Inhaftierten schwer. Kritiker sprechen von einem Moloch, in dem nur noch das Elend verwaltet wird. Klaus Lange-Lehngut (64) sieht das anders: „Wir leisten hier ausgezeichnete vollzügliche Arbeit.“ Fakt ist: Der parteilose Jurist hat den Knast 25 Jahre lang mit ruhiger Hand geführt. In seiner Amtszeit hat Tegel kaum richtige Skandale produziert. Ende März ist Schluss mit Lange-Lehngut. Dann geht er in den Ruhestand.

Interview PLUTONIA PLARRE

taz: Herr Lange-Lehngut, wie viele Tage sind es bis zu Ihrer Entlassung?

Klaus Lange-Lehngut: 70 Tage. Dann sind meine 25 Jahre hier drinnen rum.

Sie hatten keine Chance, vorzeitig rauszukommen?

Die Prognose war nicht so gut. Ich bleibe bis zum letzten Tag. Aber ich war auch gern Anstaltsleiter von Tegel.

Drogen, Aggression, Überbelegung – Sie hinterlassen Deutschlands größten Knast in keinem guten Zustand.

Drogenmissbrauch und Aggressionen bleiben in keiner Vollzugsanstalt aus. Ein Problem, das eine Gesellschaft draußen nicht lösen kann, kann im Knast auch nicht gelöst werden. Was die Überbelegung angeht, gebe ich Ihnen Recht. Jeder Inhaftierte braucht seinen Rückzugsraum, besonders nachts. Aber ich habe keinen Einfluss auf die Belegung. Wir können die Türen nicht zumachen und sagen: Wir sind voll. Deshalb begrüße ich auch ausdrücklich den Neubau der Anstalt in Großbeeren.

Die baut das Land Berlin hinter der Stadtgrenze in Brandenburg. Sie wird aber erst 2012 in Betrieb gehen.

Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen stehe ich auf dem Standpunkt, dass wir hier drinnen ausgezeichnete vollzügliche Arbeit leisten. Darüber hinaus hat Tegel die letzten Jahre, man könnte fast sagen Jahrzehnte, kaum Skandale geschrieben. Und das, obwohl das Personal immer weniger wird und wir immer mehr mit dem Feuerlöscher rumlaufen, um Schwelbrände im Beziehungsgeflecht der Gefangenen 60 verschiedener Nationen zu löschen.

Vielleicht sind die Skandale nur nicht öffentlich geworden.

Jeder Insasse kann telefonieren. Hier kann man nichts unter der Decke halten. Das ist auch nicht unser Ziel.

Was für eine Leitlinie haben Sie in all den Jahren verfolgt?

Die Gefangenen als Menschen ernst nehmen. Die Würde eines jeden Menschen ist unantastbar. Jeder ist lernfähig. Jeder soll seine Chance bekommen.

Viele Insassen würden jetzt wahrscheinlich sagen: alles hohle Worte.

Es liegt in der Natur der Sache, dass Gefangene das anders sehen. Aber ich versichere Ihnen: Jeder Insasse, der sich bemüht, hat die Chance weiterzukommen. Egal ob das eine Ausbildung oder eine Arbeit ist, obwohl wir eklatanten Arbeitsplätzemangel haben. Jeder hat die Chance, über den Weg in den offenen Vollzug in die Freiheit zu kommen. Wenn ein Gefangener allerdings lieber innerlich abtauchen will, haben wir nicht Personal genug, ihn zu motivieren. Der Selektionsprozess macht die Sache für uns nicht einfacher.

Was meinen Sie damit?

In Tegel landen nur Straftäter mit ganz schweren Belastungen und Gefangene, die wegen Unzuverlässigkeit aus dem offenen Vollzug zurückverlegt worden sind. Unter den Insassen gibt es wenige stabilisierende Faktoren. Früher hatten wir die gesunden Mitternachtschlosser, die Einbrecher und Tresorknacker. Die fehlen uns heute.

Kennen Sie Ihre Gefangenen persönlich?

Ich kenne nicht mal jeden aus den Akten. Je länger die Leute hier sind und je schwieriger sie sind, desto größer ist die Chance, dass ich sie persönlich kennen lerne. Ich gehe auch häufig durch die Anstalt. Jeder Gefangene kann mich ansprechen. Einer begrüßt mich immer mit den Worten: Wir sind dasselbe Dienstalter. Der Mann hat zweimal „lebenslänglich“ bekommen. Aber er leidet nicht unter seiner Situation. Er fühlt sich hier zu Hause.

Freut Sie das?

Überhaupt nicht. Zum Glück geht das den wenigsten Inhaftierten so. Diese Leute haben regelrechte Angst davor, hier eines Tages wieder rauszumüssen. Es gab mal einen Gefangenen, den konnten wir nur mit Tricks an die frische Luft setzen. Ein anderer, der seit 1964 hier war und vor vier Jahren entlassen worden ist, kommt immer noch täglich zum Arbeiten her. Der Mann ist über 60. Mir ist das lieber, als wenn er am Spielplatz sitzt und kleinen Mädchen beim Rutschen zuguckt.

Wie viele Gefangene sind getürmt?

Ach herrje! Ich habe lange gesagt, es sind immer die geraden Jahre, in denen so was passiert: Im Brotwagen oder in Umzugskartons versteckt, über die Mauer, mit nachgemachten Schlüsseln … In den 80er-Jahren geschah das häufiger. Aber es hat stark nachgelassen. Das hängt mit der Sicherheit und Technik der Anstalt zusammen. Und es scheint sich immer mehr durchzusetzen, dass es Chancen gibt, hier auf legalem Weg rauszukommen. Wir nennen das soziale Sicherheit.

Es gab mal eine Geiselnahme.

Das haben wir zuerst gedacht. In Wirklichkeit war es eine Liebelei. Ein Gefangener hatte sich mit einer Bediensteten in eine Zelle zurückgezogen. Da ist von außen die Tür verriegelt worden. Als Ausweg bot sich für die beiden nur noch an, eine Geiselnahme vorzutäuschen. Das Spezialeinsatzkommando der Polizei ist mit allem Drum und Dran angerückt. Der Einsatz hat sich dann aber Gott sei Dank erledigt.

Kommt es öfter vor, dass sich Beamtinnen mit Insassen einlassen?

Sehr selten. Jeder Fall ist einer zu viel. Das Traurige ist, dass es am Ende immer die Frauen sind, die die Rechnung bezahlen, weil sie in eine andere Anstalt versetzt oder entlassen werden.

Haben Sie Tegel eigentlich noch als Zuchthaus erlebt?

Als ich das erste Mal hier war, gab es das Zuchthaus noch. Das war 1967. Ich war damals noch Referendar. Die Zustände haben mich sagen lassen: Eher wirst du Schadenssachbearbeiter bei der Allianz-Versicherung, als das du jemals in den Vollzug gehst.

Was hat Sie so schockiert?

Drittklassige Juristen, die nirgendwo sonst eine Anstellung gekriegt hätten, hatten in der Anstalt das Sagen. Die haben den Vollzug mit ihrem Zynismus und ihrer Menschenfeindlichkeit geprägt. Mein Vorgänger, der Anstaltsleiter Wilhelm Glaubrecht, war die große Ausnahme. Unter dem Eindruck seiner Kriegsgefangenschaft hat der alles auch mit der Brille eines Gefangenen betrachtet, so konservativ, wie er war.

Wie war damals die Haftsituation?

Der Knast war übervoll. Die Belegungssituation war ähnlich schlimm wie heute. Wegen des schlechten Essens gab es häufig Weißkäseschlachten. Ständig musste die Polizei anrücken.

Wie kam es, dass Sie doch in den Vollzug gegangen sind?

Ich bin genötigt worden. Die Justizverwaltung war in Bedrängnis, weil der Nachfolger von Glaubrecht kurzfristig nicht mehr zur Verfügung stand. Aber ich habe die Entscheidung nie bereut. Nirgendwo im öffentlichen Dienst ist die Variationsbreite der Mitarbeiter so groß wie im Knast: Lehrer, Pfarrer, Ärzte, Sozialarbeiter, Psychologen, Juristen, Vollzugsbedienstete. Alle ziehen am selben Strang, damit die Menschen draußen nicht Opfer von Straftaten werden.

1976 wurde das Strafvollzugsgesetz eingeführt. Behandlung und Resozialisierung wurden zum vorrangigen Ziel erklärt. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Spannend und schwierig zugleich. In den Gefängnissen herrschte Aufbruchsstimmung. Die Insassen glaubten mit dem entsprechenden politischen Rückenwind alles durchsetzen zu können. So eine Solidarität unter den Gefangenen gibt es kaum noch. Heute ist jeder auf seinen Vorteil bedacht.

Bedauern Sie das?

Nein. Ich finde das folgerichtig. Wer im Vollzug weiterkommen will, muss persönlich etwas leisten. Was ich bedauere, ist, dass sich die Öffentlichkeit so wenig für den Strafvollzug interessiert.

Woran liegt das?

Menschen wollen von Kriminalität und Gefängnissen nichts wissen, solange sie nicht selbst betroffen sind. Wenn überhaupt, ist das Thema Knast eher eine Domäne der Linken.

Sind Sie selbst mal Opfer einer Straftat geworden?

In den 70er-Jahren sollte ich mal vor meinem Wohnhaus in Grunewald entführt werden. Mehrere Leute, die sich schwarze Boxerbande nannten und wohl zur Bewegung 2. Juni gehörten, versuchten, mich in ein Auto zu zerren. Nur weil ein Taxi vorbeikam und ich mich gewehrt habe, ließen sie von mir ab. Ich hatte mir das Nummernschild gemerkt, aber man hat sie nie gekriegt. Danach hatte ich lange Personenschutz.

Wird einer, der so lange wie Sie im Knast war, nicht zum Zyniker?

Nein. Ich musste keine beruflichen Hinterhältigkeiten kennenlernen. Meine Mitarbeiter und Vorgesetzten haben mich immer fair behandelt. Und bei den Gefangenen weiß ich ungefähr, was ich zu erwarten habe. Ich bin an ihnen aber auch nicht so nah dran wie die Gruppenleiter und deshalb eher vor Enttäuschungen gefeit.

Nun winkt der Ruhestand. Fühlen Sie sich ausreichend vorbereitet?

Um mich braucht sich niemand Sorgen zu machen. Meine Frau und ich werden viel reisen. Das haben wir schon in den letzten Jahren getan: Burma, Syrien, Südamerika, Asien. Da wir keine Kinder und keinen Hund haben, können wir lange wegbleiben.

Ein Buch über Tegel wollen Sie nicht schreiben?

Leider habe ich nicht genug Notizen gemacht. Ich hätte Tagebuch führen sollen.

Was wird aus Ihrer Vorlesung zum Thema Strafvollzug an der FU?

Nach diesem Semester ist Schluss. 30 Jahre sind genug. Der Leiter der Abteilung Justizvollzug in der Senatsverwaltung wird die Vorlesung übernehmen. Es muss unbedingt weitergehen.

Warum ist Ihnen das so wichtig?

Der Strafvollzug wird in der Lehre sehr vernachlässigt. Junge Juristen wissen zwar sehr genau zwischen Betrug und Diebstahl zu unterschieden. Aber kaum einer weiß, was mit Straftätern passiert, wenn sie in den Knast kommen. Früher haben Referendare ausgiebig in Tegel hospitiert. Heute kommt keiner mehr, weil die Ausbildung geändert worden ist.

Was wird aus Deutschlands einzig unabhängiger Gefangenzeitschrift Lichtblick, wenn Sie nicht mehr Anstaltsleiter in Tegel sind? Die Redaktion hat gewisse Sorge um ihre Existenz.

Ich habe immer meine schützende Hand über den Lichtblick gehalten, so schwer mir dies manchmal gefallen ist. Was da bisweilen geschrieben worden ist, hat mich schon geärgert. Aber ich finde es gut, dass wir diese Zeitschrift haben. Nach allem, was mir bekannt ist, kann der Lichtblick zuversichtlich in die Zukunft blicken.

Heißt das, Sie wissen, wer Ihr Nachfolger wird?

Nein. Aber ich habe die Ausschreibung gesehen. Da steht etwas von einem liberalen, an der Würde des Menschen orientierten Strafvollzug. In Hessen oder Hamburg hätte die Ausschreibung anders ausgesehen. Von daher glaube ich, dass mein Nachfolger kein Gegenentwurf zu mir sein wird.