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Archiv-Artikel

Die Novemberrevolution

DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Im Herbst 1989 war das Volk noch schön. Nach dem Ende der DDR wurde es wieder für unmündig erklärt

„Entsolidarisierung ist etwas, das genauso gelernt werden will wie Solidarisierung.“

Jens Jessen in „Die Zeit“

Das Fernsehen ist das Medium, das nichts Neues zeigt, obwohl es immerzu Neues zeigt. Jeder, der eine Talkshow sieht, ahnt das. Noch kann er sagen: Nun gut, ich war ja nicht dabei, daran liegt es! Umso schlimmer, einsehen zu müssen: Daran liegt es nicht.

Es war eine Talkshow über den Osten, ich war dabei, Beispiel, Gegenbeispiel, und am Ende war der Ausgangszustand wiederhergestellt. Nichts Neues. Natürlich, das Beispiel hat einen miserablen Ruf unter Denkenden – aber dies war eine Talkshow. Dasselbe Reden über die DDR, Beispiel, Gegenbeispiel, wie seit sechzehn Jahren. Es bleibt der Stasistaat voller Duckmäuser. Und das Schlusswort hielt Florian Henkel von Donnersmarck, der Regisseur des Films „Das Leben der anderen“: Nie wieder Diktatur! Jeder ist seines Glückes Schmied!

Natürlich ist es nicht schlecht, wenn ein Film klüger ist als sein Regisseur. Der Osten, das weiß jeder, war bisher nicht gerade seines Glückes Schmied. Und mancher wird still ergänzen: alles A-Bevölkerung. A-Bevölkerung ist das neue Mode-Synonym für Unterschicht. A steht für: Alte, Arme, Arbeitslose. Die fatale Suggestion zwischen der mehr oder minder ferndiagnostizierten Vergangenheit des Ostens und seiner Gegenwart aber lautet: selber schuld. Der diktaturgeborene Mitläufer ist nun mal kein Selbst-Läufer, da kann man nichts machen.

Der Osten, die Unterschicht der Nation?

Am Beginn eines jeden Novembers macht das besonders traurig. Nicht weil der November so ein trauriger Monat ist, im Gegenteil, weil die Ostberliner damals das Laufen lernten. Der November ist der Revolutionsmonat der Deutschen. Die Franzosen hätten ihre Revolutionen nie bei schlechtem Wetter angefangen, sogar die Bastille haben sie im Hochsommer gestürmt.

Aber der November war doch gut. Denn in der Novemberkahlheit sah man viel besser den Aufbruch, die Fantasie, die Intelligenz, den Witz, die Spontaneität eines ganzen Volkes, dem man das alles fast nicht zugetraut hätte. Nicht erst am 9. November, als die Ostberliner ihre Grenzsoldaten mit Blumen entwaffneten. Nein, der schönste Augenblick des Herbstes 1989 in Berlin war vorher, am 4. November, als die halbe Stadt durch die Stadt zog: 500.000.

Das Volk ist nicht schön, sagten viele, die es gut gekannt haben, und bestimmt haben sie recht. Aber am 4. November vor siebzehn Jahren war das Volk schön. Gibt es das, die Reife eines Volkes? Damals wollte man es glauben. Es war anders als 1953, als die oft gerade aus der Emigration zurückgekehrten Künstler und Intellektuellen sich niemals solidarisiert hätten mit den aufständischen Arbeitern, mit dem „Volk“. War es nicht dasselbe Volk, das Hitler gewählt hatte?

Wer das Ende der DDR nicht mitdenkt beim Reden über die DDR, denkt am Wesentlichen vorbei. Man stelle sich vor, das „Volk“ hätte den Nationalsozialismus so verabschiedet. Und überall die grün-gelben Schärpen: Keine Gewalt! Die Schneiderei der Staatsoper hatte sie genäht. Irgendwann nach 1990 war das alles vorbei. Das Volk war wieder stillgestellt, es war wieder Objekt – eine vertraute Rolle. Und es sprach auch nicht mehr selbst, über das Volk wurde gesprochen. Da war es im Munde der öffentlichen Meinung nur noch das angepasste Volk der Diktatur, als hätte es diesen 4. November und den Herbst 89 nie gegeben.

Es gibt bis heute zwei verschiedene Denktraditionen in Ost und West. Die (alte) Bundesrepublik, seit sie in den Kreis der westlichen Demokratien eingetreten ist, denkt wesentlich formaljuristisch. Die Welt und die Geschichte, aufgelöst in Rechtsgrundsätze.

Der Osten denkt bis heute mit Vorliebe „seinshaft“ und entwicklungsgeschichtlich. Er weiß, die DDR war das Ergebnis des Zweiten Weltkrieges, sie war das Ergebnis deutscher Schuld – eine Diktatur der Opfer. Eine Diktatur im Namen der Toten, wie Friedrich Dieckmann sagte. Die alten Männer an der Macht kamen aus den KZs, aus der Emigration, aus dem kommunistischen Widerstand. Heute Abend um 20.15 Uhr zeigt die ARD Jo Baiers Film „Nicht alle waren Mörder“ nach den Kindheitserinnerungen Michael Degens. Ein jüdischer Junge und seine Mutter überleben im nationalsozialistischen Berlin, nicht zuletzt dank des Netzes des kommunistischen Widerstands. Man ist unwillkürlich überrascht, das zu sehen – so gründlich hat das neudeutsche Bewusstsein versucht, ihn zu vergessen, nicht nur Großhistoriker Joachim Fest.

Ihre Vergangenheit legitimierte die alten Männer an der Macht, daher die Eigentümlichkeit des Aufbegehrens vieler in der DDR: Anpassung und Rebellion in denselben Lebensläufen. Es ging eigentlich nie um den Sturz des Regimes, nicht einmal 1989 – und auch nicht 1976 bei der Ausbürgerung Wolf Biermanns.

Noch so ein Novemberdatum, ein rundes sogar. Die DDR-Geschichte scheint tatsächlich eine Novembergeschichte gewesen zu sein. Die Ausbürgerung Wolf Biermanns vor genau dreißig Jahren markierte den Anfang vom Ende der DDR. Und doch wollten die, die damals Protest erhoben, nichts weniger als das. Diesen ewigen Zwiespalt zu verstehen, heißt DDR-Geschichte zu verstehen. Im puren Entweder-Oder von Demokratie und Diktatur, Rechts- und Unrechtsstaat kommt diese Differenz nicht unter. Und es geht dabei nicht um eine Rest-Rechtfertigung der DDR oder gar darum, die reine Seele des Sozialismus von seiner schmutzigen Verkörperung zu trennen – keine Seele existiert unabhängig vom Leib, die Materialisten waren ungläubig genug, sie könnten das wissen. Aber es geht um die Möglichkeit, historische Erfahrungen zu formulieren, zu verstehen, was mit einem ganzen Teilvolk geschehen ist. Und kein Verstehen ist abstrakt.

Nur A-Bevölkerung: Arme, Alte, Arbeits–lose. Ist der Osten etwa die Unterschicht der Nation?

Wolfgang Engler hat die DDR die arbeiterliche Gesellschaft genannt und damit ihren Gestus gut getroffen. Die Kultur der Arbeiter war in der Tat die Leitkultur der DDR, was deren Verführungskraft sehr in Grenzen hielt. Arbeiter – also A-Bevölkerung?

Proletariat war die selbstgewählte Bezeichnung der Unterschicht des 19. Jahrhunderts, die keine Unterschicht mehr sein wollte. Jeder ist seines Glückes Schmied, wie Donnersmarck sagt. Zwei Weltkatastrophen deutschen Ursprungs machten die Unterschicht für kurze Zeit zur Oberschicht. Es ist sehr unkomfortabel, wenn die Unterschicht herrscht. Das ist der Kern der Diktatur DDR.

Soziologen haben herausgefunden, dass es heute in Wirklichkeit zwei Unterschichten gibt: eine obere Unterschicht und eine untere Unterschicht. Die obere Unterschicht verrichtet schwere körperliche Arbeit, die untere gar keine. Die DDR bestand also vor allem aus oberer Unterschicht, auch das Volk genannt.

Nein, siebzehn Jahre später ist das Volk nicht mehr schön. Das Schlimmste am Volk, hat Oscar Wilde gesagt, ist, dass es so hässlich ist. Und wie es riecht.

Manchmal ahnt man, was er meinte. Besonders in der Berliner S-Bahn. Und doch, liebe Unterschicht: Du brauchst dich nicht zu schämen, nicht mal vor Florian! Global betrachtet, gibt es ja doch nur dich. Zahlenmäßig fallen die anderen gar nicht ins Gewicht. Die Welt – das bist in Wahrheit du! KERSTIN DECKER