: Zielgruppe: Selbstmörder
AUS WUPPERTAL KATHARINA HEIMEIER
20 Namen stehen auf der Liste, hinter sechs von ihnen ein Kreuz. Es kennzeichnet diejenigen, die starben, weil Kejdi S. aus Wuppertal ihnen Selbstmordpillen verkaufte. Darunter auch der 22 Jahre alte Philip H.*. 300 Euro hatte er Kejdi überwiesen. Dafür bekam er 70 Tabletten Luminal, zehn Tabletten Truxal, drei Tabletten Diazepam und drei Beutel Maaloxan. Ein tödlicher Medikamenten-Mix. Als Philip H. am 7. Februar 2005 gefunden wurde, hatte sein Leichnam bereits angefangen zu faulen.
An einem klaren Wintertag ein Jahr und etwa zehn Monate später verliest Staatsanwältin Leane Brosch seinen Namen im Saal L 147 des Wuppertaler Landgerichts. Philip H. wird als Nummer 14 in der Anklage gegen Kejdi S. aufgeführt. Ihm und 18 weiteren soll Kejdi laut Anklageschrift über ein Selbstmord-Forum im Internet mindestens 1.736 Tabletten verkauft haben – für die Staatsanwaltschaft besonders schwere Verstöße gegen das Arzneimittelgesetz, für die Käufer zum Teil tödlich. Fünf von ihnen nahmen sich wie Philip H. mit einem Pillen-Cocktail das Leben, andere überlebten, einige lagen bis zu einer Woche im Koma. In vier der 20 in der Anklageschrift genannten Fälle wird das Verfahren gegen Kejdi später eingestellt.
Am ersten Verhandlungstag sagt er selbst nichts zu seinen Geschäften mit den Selbstmordpillen. Schweigend sitzt er neben seinem Anwalt, als dieser das Geständnis verliest. Kejdi trägt eine schwarze Brille, ein hellblaues Hemd und die Haare nass gegelt. Er ist 23 Jahre alt, geboren 1983 in Tirana (Albanien), und sitzt seit Mai im Gefängnis. Intelligent soll er sein. Im Sommer 2004 hat er sein Abi gemacht - mit einem Notendurchschnitt von 1,7 oder sogar 1,4, heißt es in der Verhandlungspause auf dem Flur. Nach Frankreich wollte er gehen oder BWL und Marketing studieren. Stattdessen organisierte er Parties und verkaufte vom Computer in seinem Kinderzimmer aus Pillen, mit denen sich Menschen das Leben nahmen.
Paul de Vitt oder buddha nannte er sich in dem Forum www.selbstmord.com. Ein Forum, in dem sich Menschen aus ganz Deutschland unter Pseudonymen wie „frozen smile“, „deep sadness“ oder „leergeweint“ trafen und nach einem „möglichst schmerzfreien Weg“ zu sterben suchten. So jedenfalls lässt es Kejdi am ersten Prozesstag von seinem Anwalt erklären. Er habe sich unter diesen Menschen einen Namen gemacht „als jemand, der gut Bescheid weiß“. Was genau das bedeutet, zeigen die Ausschnitte aus dem Forum, die Richter Ralph von Bargen verliest. „Lasst den Alk ganz aus dem Spiel“, riet Kejdi dort als buddha. Alkohol erhöhe die Gefahr zu brechen.
Beiträge von anderen kommentierte er mit den Worten „mit den Mitteln könntest du dich theoretisch fünf bis sieben Mal töten. Viel Spaß!“ Oder: „Das reicht noch nicht mal für die Intensivstation.“ Er selbst gab sich wahlweise als Medizinstudent aus oder als jemand, der selber einen Selbstmord plane. Er komme an alle Sachen ran, schrieb er.
Die jeweiligen Verhandlungen über Menge und Preis der Tabletten wickelte er über das Chatprogramm ICQ ab. Auf den Überweisungsträgern standen im Betreff „Winterjacke“, „Fußballkarten“ oder „Kreditrückzahlung“ – tatsächlich lieferte Kejdi den Lebensmüden zwischen November 2004 und Mai 2005 Medikamente gegen Epilepsie sowie Beruhigungsmittel. Bereits im Februar 2005 waren Polizeibeamte nach dem gescheiterten Selbstmordversuch eines 27-Jährigen in Furth auf Kejdis Spur gestoßen. Im Mai beschlagnahmten Polizeibeamte bei einer Hausdurchsuchung in Kejdis Elternhaus seinen Computer.
„Regelrecht dankbar“ seien ihm die Abnehmer gewesen, gibt er gut anderthalb Jahre später vor Gericht zu Protokoll. Er habe niemanden zum Selbstmord überredet. Bei den Menschen, die er belieferte, habe der Entschluss längst festgestanden. Das Forum habe einen „eigentümlichen Bann“ auf ihn ausgeübt. Und er liefert dem Gericht noch einen Erklärungsversuch für seine makabren Geschäfte im Internet: Er selbst habe einmal eine Freundin gerettet, die nicht mehr leben wollte.
Um sie zu verstehen, meldete er sich selbst beim Internetforum www.selbstmord.com an. So zumindest geht Kejdis Version.
Es ist eine Version, mit der er zunächst Pluspunkte sammelt beim Vorsitzenden Richter, wie der am zweiten Verhandlungstag sagt. Doch zu dem Zeitpunkt hat Kejdis Erklärung längst einen schalen Beigeschmack bekommen. Denn die Freundin, auf die er sich bezieht, kann die Geschichte vor Gericht nicht bestätigen. Sie macht nach Polizeiermittlungen Urlaub in Thailand. Die Reise soll sie geschenkt bekommen haben. Von wem, ist nicht bekannt. Scheinbar zufällig allerdings wird sie nicht vor dem geplanten Prozessende zurückkommen – so heißt es zumindest am zweiten Prozesstag. „Sollte sich herausstellen, dass jemand versucht, uns dieses Mädchen vorzuenthalten, wird diese Kammer einen außerordentlich langen Atem beweisen“, sagt Richter von Bargen. Wie eine Drohung hängt der Satz in dem Gerichtssaal mit dem 70er Jahre-Charme, den eierschalenfarbenen Wänden und den hohen Fenstern.
Später sagt das Mädchen dann doch noch vor Gericht aus – dabei stellt sich heraus, dass Kejdi schon vor ihrem Selbstmordversuch im Forum aktiv war.
Während der Verhandlung breitet sich häufig auf Kejdis Wangen eine Art roter Hektik-Fleck aus. Am zweiten Prozesstag trägt er einen dunkel-weiß gestreiften Pulli, darunter ein weißes Hemd. Er sei ein Frauentyp gewesen, habe die Mädels mit seinen Salsakünsten beeindruckt, berichtet ein Stufenkamerad im Zeugenstand. Im Sommer 2004 kurz nach dem Abi feierten die beiden auf Mallorca. Später besorgte der Stufenkamerad Kejdi das Anti-Epileptikum Luminal aus der väterlichen Apotheke. Das Mittel sei für seinen Opa in Albanien, der unter der Krampfanfällen leide, hatte Kejdi gesagt.
Obwohl das Bundeskriminalamt (BKA) den Jungen und seinen Vater wegen des vermeintlichen Gefallens für seinen Kumpel Kejdi befragte, berichten beide nur Gutes von ihm. Liebenswürdig sei er gewesen, hilfsbereit und freundlich. Es passt zu dem Bild, das seine Angehörigen und Freunde auf dem Gerichtsflur von ihm zeichnen – zu seinen Geschäften im Netz passt es nicht.
Um schwer erziehbare Kinder habe er sich gekümmert, berichtet seine Mutter, eine schlanke Frau mit unecht schimmernden Perlensteckern und einer voluminösen Fönfrisur, den Journalisten auf dem Flur. Filmen lassen will sie sich nicht. Aber reden will sie schon. Es sind haarsträubende Geschichten, die sie erzählt. Ein Reporter von Peking News habe angerufen und eine Million Dollar geboten für die Todesformel, die ihr Sohn entwickelt habe. Doch nicht alles, was sie seit der Festnahme ihres Sohnes erlebt hat, war so lächerlich-absurd. Sogar Morddrohungen habe die Familie bekommen, berichtet ein Freund.
Kejdi selbst gibt sich während der Prozesstage schweigsam. Erst am vorletzten Verhandlungstag ergreift er doch noch das Wort. Es ist still im Gerichtssaal, als er mit tiefer, leicht schleppender Stimme den Lieferanten der gefälschten Rezepte nennt, mit denen er sich die Pillen besorgt hatte. Auch ihn habe er im Forum kennen gelernt. Wie sich diese Gesprächigkeit auf Kejdis Strafdauer auswirkt, wird sich morgen bei der Urteilsverkündung zeigen. Die Staatsanwältin plädierte für fünf Jahre Haft. Um Sterbehilfe, wie es die Verteidiger angedeutet hätten, hat es sich ihrer Meinung nach nicht einmal ansatzweise gehandelt.
*Name geändert