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Archiv-Artikel

Ein Fisch namens Rudi

Was denkt ein Fisch, der sich auffällig häufig an der Spitze seines Schwarms wiederfindet? Ein kleiner Hinweis auf ein recht außergewöhnliches Schwarmverhalten

Wenn sich ein Fisch, nennen wir ihn Rudi, auffällig häufig an der Spitze seines Schwarms wiederfindet, viel häufiger als alle anderen Fische – wie könnte er sich diese herausgehobene Stellung erklären? Er könnte es mit Horaz halten und blubbern: „Wer sich selbst vertraut, der lenkt als Anführer den Schwarm.“ Darauf gibt es dann zwei Möglichkeiten. Entweder er vertraut sich tatsächlich selbst und kennt die Richtung, die der Schwarm nehmen soll. Dann ist alles gut. Der Fisch wird mit sich im Reinen sein und braucht sich nur noch darüber zu wundern, warum die vielen Fische, denen er vorgeblubbert hat, sie sollen aufrecht schwimmen, sich weiterhin Helden und Anführer suchen müssen.

Oder aber er vertraut sich nicht. Aber auch das wäre nicht schlimm. Der Fisch bräuchte nur darauf zu vertrauen, dass es schon einen Grund geben wird, warum er an der Spitze schwimmt, auch wenn niemand den Grund genau kennt. Diese Situation hätte sogar Vorteile für den Fisch. Im Prinzip wäre es dann ja egal, was der Fisch sich denkt. Er könnte sogar Unverständliches denken und wäre trotzdem an der Spitze. Und, beiseite: Genau das hat der Fisch dann auch getan. Mit Recht, wie sich zeigte. So genau will niemand von den Fischen, die ihn Jahre später immer noch an der Spitze der Schwarmbewegung sehen, denn auch wissen, was er einmal geblubbert hat.

Wenn sich ein Fisch, nennen wir ihn Rudi, auffällig häufig an der Spitze seines Schwarms wiederfindet, könnte er aber auch denken, dass der Schwarm nicht mehr auf der Höhe der möglichen Selbstbeschreibungen für Schwärme ist. Die Verhaltensforschung hat längst festgestellt, dass Schwärme Anführer nicht nur nicht brauchen, sondern sogar viel besser ohne sie auskommen. Eine Orientierung auf Anführer wäre zu unflexibel, zu langsam, zu ausrechenbar und würde den Schwarm leicht fass- und angreifbar machen. Wenn es aber keinen Alphafisch gibt, kann jeder Fisch zum Leitfisch werden, der eine Bedrohung als Erster erkennt. Helden sind also Kennzeichen für Schwärme, die sich selbst nicht (mehr) kennen.

Aber welche Fische schwimmen dann vorne? Der Verhaltensforschung zufolge bleibt ein Schwarm deshalb zusammen, weil die Fische am Rand stets in die Mitte schwimmen wollen. Dort ist der Schutz am größten. Der Fisch an der Spitze ist also ein Fisch, der es nicht in die Mitte geschafft hat und den eine anonyme Schwarmbewegung für einen Moment ganz nach vorn gestellt hat – wo er am leichtesten gefressen werden kann.

Wenn sich ein Fisch, nennen wir ihn Rudi, häufig an der Spitze seines Schwarms wiederfindet, müsste er sich eigentlich Sorgen machen. DIRK KNIPPHALS