DER LANGE WEG NACH MITTE : Camping im ICE
Ich wunderte mich schon, als die Frau an mir vorbeiging und ich sah, was sie da in der Hand hielt. Sie verließ kurz das Abteil des ICE von Hamburg nach Berlin, kam wieder, und kurze Zeit später gluckerte und blubberte es leise unter ihrem Sitz. Dann klickte es. Und dann wurden jene Mitfahrer wach, die schon seit einer halben Stunde vor sich hin röchelten, tief versunken. Es stank plötzlich ungemein. Die Frau war mit ihrer Freundin unterwegs, beide Anfang dreißig, eben noch hatten die zwei hochkonzentriert dieses japanische Brettspiel gespielt, dann hatten sie geredet. Und weil durch Spiel und Sprech der Mund trocken wird und der Bauch knurrt, muss man Abhilfe schaffen, vor allem, wenn man eine Langstreckenzugfahrt von einer Dreiviertelstunde vor sich hat. Also reisen sie sicherheitshalber mit einem, tada: Wasserkocher.
Und nun sah ich auch, woher der Geruch kam: Sie aßen. Eine Tütensuppe, die sie sich in kleinen Tupperschalen fein zubereitet hatten, voll gemütlich, nur die frische Alibipetersilie am Tupperrand fehlte. Sie löffelten lustig, weshalb nun wenigstens das Brummen der Bäuche verstummte. Die erwachten Schläfer wendeten ihre Köpfe, rümpften die Nasen, aber niemand sprach. Die Frauen aßen, es stank, alles schwieg.
Es hätte nicht verwundert, wenn die beiden anschließend in ihre Camperschuhe geschlüpft wären, um im Abteil einen Verdauungsspaziergang zu machen. Oder um mit Pfeil und Bogen auf eine Zielscheibe zu schießen, quer durch den Zug.
Stattdessen ging die eine aber abwaschen auf dem Bordklo. Ich habe so gelernt, dass man bloß wissen muss, wie man es sich in diesem öffentlichen Raum gemütlich macht. Ach ja, und noch was weiß ich jetzt: Wenn wieder jemand im ICE mit einem Wasserkocher durchs Abteil schlurft, brate ich da augenblicklich Fisch. Mit Kohl. Auf einem Gaskocher.
BORIS ROSENKRANZ