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Archiv-Artikel

„Es gibt nur einen Che. Und nur einen Sócrates“

ANRUF IM MAGIC BUS (II) Daniel Cohn-Bendit über Selbstüberschätzung, Kindlichkeit und brasilianische Illusionen

Daniel Cohn-Bendit

■ Der 69-jährige Grünen-Politiker hat das Europäische Parlament hinter sich gelassen und ist während der Fußball-WM mit dem Campingbus „Sócrates“ durch Brasilien gefahren. Für Arte dreht er einen WM-Film, und nebenher führte er das Videoblog „Danys Day“.

INTERVIEW PETER UNFRIED

taz: Herr Cohn-Bendit, Sie sind durch Brasilien gereist, um den politischen Fußball zu finden. Was haben Sie gefunden?

Daniel Cohn-Bendit: Ich habe ehemalige Nationalspieler mit politischer Reflexion gefunden wie Rai, den Bruder von Sócrates, und andere. Es gibt eine Art Gewerkschaftsbewegung, auch viele aktuelle Profis haben eine soziale Ader. Aber die brasilianische Gesellschaft ist heute anders politisiert als vor 30 Jahren, und soziale Fragen sind schwierig zu beantworten.

Warum dieser wahnsinnige Druckaufbau, die gleichzeitige Zerstörung und Glorifizierung des Spielgedankens, die obsessive Reduzierung auf den Sieg?

Das ist das Problem Brasiliens. So wie Deutschland geprägt ist von einem Wunsch nach Effizienz, ist Brasilien geprägt von dem Bedürfnis nach Emotionen. Das wollen sie auch vom Fußball: Ekstase und einen emotionalen Ausnahmezustand. Dann kam noch der Druck, den vor allem das Monopolmedium Globo aufgebaut hat: Das war einfach zu viel für die Spieler.

Wie erleben Sie den Umgang mit der Niederlage?

Kaum hatten sie gegen Deutschland verloren, sagt Pelé: Dann gewinnen wir halt 2018 in Russland. Das ist die Selbstüberschätzung, die diese Gesellschaft auch prägt. Die wird auf den Fußball übergeleitet.

Der in Brasilien gespielte Fußball kann doch mit Europas Topligen nicht konkurrieren.

Die WM ist ein Moment, an dem eine Nation zusammenfinden will. Das muss man verstehen. Brasilien produziert die besten Fußballer mit herausragenden individuellen Fähigkeiten, die in allen europäischen Ligen spielen. Aber der Alltag im Land sind tatsächlich geringe Zuschauerzahlen und ein brasilianischer Fußball, der als Stil oder Kollektiv stinklangweilig ist.

Dennoch redet sich Brasilien notorisch ein, dass man den besten und den schönsten Fußball spielt. Fällt der Widerspruch zur Realität niemandem auf?

Tja. Nicht nur der Fußball, auch der brasilianische Lebensstil ist ein permanentes Produzieren von Illusionen. Der Karneval, die Musik: Das ist eine Lebensform, die auf der Illusion von Spaß basiert.

Das Volk wird im Postkapitalismus durch Massenkultur ruhiggestellt?

Ach. Die deutsche Gesellschaft hat etwas Selbstgerechtes, die brasilianische Gesellschaft hat in ihrem Gehabe etwas Kindliches. Das ist manchmal faszinierend und manchmal nervtötend. In der Realität sind Schönheit und Gewalt oft ganz nah beieinander. Salvador etwa ist überhaupt nicht mehr diese Happy-Life-Beach-Stadt, wie ich das vor 30 Jahren empfunden habe. Letztes Jahr wurden in Brasilien knapp 60.000 Leute ermordet, das musst du immer im Kopf haben.

Wird die WM einen Einfluss auf die Wiederwahl von Präsidentin Dilma Rousseff haben?

Allein, dass der Zusammenhang ernsthaft diskutiert wird, ist schon bedenklich. Als habe Dilma die Mannschaft aufgestellt. Schwellenländer sind Schwellenländer, das heißt: Sie sind an einer zivilisatorischen Schwelle. Die linke Regierung hat die Ärmsten mit einem gewissen Grundeinkommen aus der Armut rausgenommen, aber da Bildung nicht gefolgt ist, bleiben diese unfassbaren Ungleichheiten bestehen.

Ihr Bus heißt „Sócrates“ nach dem Kapitän der Seleção, der in den 80ern schönen Fußball und Widerstand in sich vereinte. Wie wird er heute rezipiert?

Bei dem Namen kriegen viele leuchtende Augen. Der Mythos ist stark, auch bei jungen Leuten. Aber es gibt keinen zeitgemäßen Ausdruck. Das ist eine Erkenntnis meiner Reise: Es gibt nur einen Che, und es gibt nur einen Sócrates.

Beide sind tot, wie geht es Ihnen?

Ein Candomblé-Priester sagte mir ein langes Leben voraus.