: „Es gibt kaum noch Berührungsängste“
Seit anderthalb Jahren leitet Marco Santi das Osnabrücker Tanztheater. Bevor sein neuestes Stück „Verklärte Nacht“ Mitte Februar uraufgeführt wird, ist der 40-Jährige Gastgeber des 3. Norddeutschen Tanztreffens. Dabei will er alle Altersgruppen an den Tanz in seinen verschiedenen Facetten heranführen
INTERVIEW THORSTEN STEGEMANN
taz: Herr Santi, so schön sie sind: Kulturfestivals haben nicht gerade Seltenheitswert. Braucht man da noch ein „Norddeutsches Tanztreffen“?
Marco Santi: Ja, unbedingt! Die norddeutsche Tanzszene ist viel kleiner als die im Süden, deshalb kommt es hier besonders darauf an, dass sich Tänzer und Choreographen vernetzen, besser kennen lernen und voneinander lernen. Außerdem schlägt das Tanztreffen eine wichtige Brücke zwischen den etablierten Theatern und der freien Szene.
An wen richtet sich das Festival?
Wir wollen jede Altersgruppe ansprechen, vor allem Kinder und Jugendliche, für die spezielle Projekte wie „Tanzmobil“ aus Osnabrück, „Physical Graffitti“ aus Braunschweig oder „Paradise is not for me!“ aus Bremen entwickelt wurden. Das Festival soll den Tanz in seiner ganzen Bandbreite und Vielschichtigkeit präsentieren, deshalb werden auch verwandte Bereiche wie Bildende Kunst, Musik oder Video-Installationen eine wichtige Rolle spielen. Für die Zuschauer gibt es also viel zu entdecken.
Sehen Sie eine realistische Chance, mit ambitionierten Tanzprojekten ein junges Publikum zu erreichen, oder funktioniert so etwas nur – und dann ganz anders – im Privatfernsehen?
Formate wie „You can dance“ lösen zunächst mal ein Interesse aus. Wir müssen den jungen Menschen dann vor Ort zeigen, dass der Tanz mehr Facetten hat als HipHop. Außerdem wollen wir vermitteln, dass es auf Dauer weder Sinn noch Spaß macht, große Stars einfach nur nachzuahmen. Tanzen bedeutet vielmehr, die eigene Kreativität auszuleben, Bewegungsdrang umzusetzen oder auch Aggressivität abzubauen. Für soziale Projekte ergeben sich hier viele Ansatzpunkte, denn der Tanz kann jungen Menschen eine Vision geben. Deshalb wollen wir in Osnabrück die Zusammenarbeit mit den Schulen noch weiter intensivieren.
Welche Perspektiven hat der Tanz in Zeiten leerer Kassen? In Oldenburg und Bremen haben die entsprechenden Sparten bereits eine enge Kooperation vereinbart. Glauben Sie, dass sich andernorts ähnliche Tendenzen abzeichnen?
Die Gefahr besteht immer: Wenn radikal gespart werden soll, steht das Tanztheater oder Ballett als Erstes zur Diskussion, weil man es einfach abwickeln kann und keinen großen Widerspruch befürchtet. Die Summen, die dabei eingespart werden können, sind allerdings lächerlich gering im Vergleich zu anderen Ausgaben. Außerdem bedenken die Politiker kaum, dass Tänzer und Choreographen spartenübergreifend auch in anderen Produktionen eingesetzt werden. Man schadet im Falle einer Schließung also nicht nur dem Ruf des Hauses, sondern beeinträchtigt auch die konkreten Arbeitsbedingungen. Fusionen bringen Möglichkeiten der Kooperation und des Austausches mit sich, sind aber oft schwierig zu organisieren und unter Umständen sehr viel kostenintensiver als geplant. Die optimale Lösung bestünde also darin, die Eigenständigkeit der Theater zu wahren, wodurch gemeinsame Projekte ja keineswegs ausgeschlossen sind, wie man am Tanztreffen deutlich sieht. Grundsätzlich begrüßen alle Tanzschaffenden, dass dieses Thema durch eine Initiative wie „Tanzplan Deutschland“, die ein bundesweites Netzwerk herstellt, mehr öffentliches Gewicht bekommt.
Wie hat sich das Verhältnis von Theaterensembles zur freien Tanzszene in den letzten Jahren entwickelt?
Sehr positiv, denn die Möglichkeiten der Zusammenarbeit sind vielfältig. Ich komme selbst aus der freien Szene, die in künstlerischer Hinsicht viele Vorteile bietet, oft aber nicht über genügend finanzielle Mittel oder die nötige Infrastruktur verfügt. Junge Talente und Newcomer, die aus freien Gruppen kommen, haben an etablierten Theatern ganz andere Arbeitsmöglichkeiten, und so ist es auch bei den festen Ensembles, wenn sie ihre angestammten Räume einmal verlassen und Ungewohntes ausprobieren. Von einem regen Austausch, der beim Tanzfest ausdrücklich vorgesehen ist, profitieren beide Seiten.
Woher kommen die innovativen Ideen und großen Talente – existiert vielleicht eine regelrechte Tanz-Hochburg im Norden Deutschlands?
In Berlin gibt es eine besonders große Szene, in der viele tolle Einfälle und neue Projekte entstehen. Doch auch im engeren Umkreis können viele Städte und Ensembles Tanzprojekte auf hohem Niveau realisieren. In Bremen hat sich eine ungeheuer vielfältige Szene entwickelt, die vom Tanztheater-Ensemble um Urs Dietrich und von vielen freien Gruppen getragen wird. Ähnliches gilt natürlich auch für Hamburg.
Wie wird sich der Tanz ästhetisch weiterentwickeln?
Ich denke, der Tanz wird etwas kleiner und intimer, denn er findet in einer immer größeren Umgebung statt. Choreographen und Tänzer arbeiten mit Schauspielern, Musikern, Video- und anderen Medienkünstlern zusammen. Es gibt da kaum noch Berührungsängste oder Grabenkämpfe, wie sie früher beispielsweise zwischen Anhängern von Ballett und Tanztheater ausgetragen wurden. Ich bin sicher, dass der Tanz die Theater noch oft verlassen und sich viele neue Räume erschließen wird. Außerdem werden die Zuschauer immer stärker in das Geschehen einbezogen. Dabei geht es nicht um immer aufwendigere Events, sondern mehr um die gegenseitige Inspiration. Aus all diesen Elementen kann wirklich ein neues Gesamtkunstwerk entstehen.