: Rückkehr zu Jehova
Nach 15 Jahren Pause schloss sich der Kameruner Stéphan Minko erneut den Zeugen Jehovas an. Der Älteste seiner Gemeinde hatte lange um ihn geworben. „Die Organisation wird unterschätzt“, sagt ein Sektenforscher
■ Status: Als erstes Bundesland hat Berlin sie 2006 als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt. Formal sind die Zeugen Jehovas damit anderen Religionen gleichgestellt. In drei Bundesländern gelten sie nach wie vor als Sekte beziehungsweise „konfliktträchtige Organisation“.
■ Hierarchie: Es gibt verschiedene Dienstränge. Die Ältesten halten Vorträge, verwalten Geld, treffen wichtige Entscheidungen und sehen sich als Sprachrohr Gottes auf Erden. An der Spitze Deutschlands steht das Zweigbüro. Acht Männer koordinieren ganz Deutschland, Österreich, die Schweiz, Luxemburg und Liechtenstein von Selters im Taunus aus. Die weltweit „Leitende Körperschaft“ sitzt im Bundesstaat New York.
■ Kongresse: Einmal im Jahr versammeln sich alle Mitglieder auf Bezirksebene. Vom 18. bis 20. Juli werden allein in Deutschland bis zu 250.000 Menschen zusammenkommen, unter anderem im Berliner Olympiastadion und in der Arena in Frankfurt. Das diesjährige Kongressmotto lautet: „Suche zuerst Gottes Königreich“.
AUS BERLIN PAUL HENSCHEL (TEXT UND FOTOS)
Den Kühlakku an die Wange gepresst, setzt er sich neben seine Frau in die zweite Reihe. Auch eine Zahn-OP konnte Stéphan Minko nicht abhalten, direkt in den „Königssaal“ zu kommen, einen prunklosen Raum im Berliner Stadtteil Wedding. Für den Kameruner und alle anderen Zeugen Jehovas ist der 14. Nisan des jüdischen Kalenders, der Tag des „Gedächtnismahls“, der wichtigste Tag im Jahr, an dem sie des Todes Jesu Christi gedenken.
Minko geht zweimal die Woche zu Versammlungen seiner Religionsgemeinschaft, missioniert von Tür zu Tür und studiert die Bibel und den Wachtturm, die Zeitschrift der Zeugen Jehovas, und all das neben seinem 40-Stunden-Job als Softwareentwickler. „Es ist manchmal schon anstrengend“, gibt er zu. Rund zehn Stunden kommen so in der Woche locker zusammen. Die Anzahl der Stunden hält er, für die Organisation einsehbar, in einem Buch fest.
Minko hat „recherchiert“, bevor er wieder Mitglied wurde. „Im Internet findet man natürlich viel Müll über die Zeugen Jehovas“, sagt der Programmierer mit der Statur eines Basketballspielers. Auf seinem Ledersofa in seiner Berliner Wohnung liest er in der Bibelübertragung der Zeugen Jehovas – das Wort „Jehova“ steht für Gott. Seine rechte Hand wandert über die Verse, viele Stellen sind unterstrichen. Flink blättert er in dem schwarzen kleinen Buch, das er aus seinem Bücherregal nimmt, in dem auch Comicbände und Fachbücher zu Programmiersprachen wie PHP und Java stehen.
Religion oder Sekte?
Es gibt bücherfüllende Mythen über die Zeugen Jehovas. Sie galten lange als Sekte, bevor sie 2006 nach jahrelangem Rechtsstreit als Körperschaft in Berlin anerkannt und mit den Weltreligionen rechtlich gleichgestellt wurden. Michael Utsch von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen spricht auch im Jahr 2014 von einer „konfliktträchtigen Organisation“ mit sektenartigen Merkmalen. Dennoch ist die Organisation in 13 Bundesländern als Religionsgemeinschaft anerkannt. „Ein reiner Imagegewinn. An den inneren Strukturen hat sich nichts geändert“, meint Utsch. In Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Bremen wehrte man sich gegen die Anerkennung und bezweifelt, dass das Recht auf freie Entfaltung des Einzelnen als Zeuge Jehovas gewahrt bleibt. „Man muss linientreu und konform sein. Das finde ich unmenschlich“, kritisiert Utsch. Die Mitglieder müssen Treue beweisen, indem sie beispielsweise religiösen Druck auf Bekannte und Familie ausüben, die nicht bei den Zeugen Jehovas sind, berichten Aussteiger. Bei den Berliner Sektenstellen sind die Zeugen Jehovas nach Scientology die Organisation, die am häufigsten nachgefragt wird.
Eine Verbindung zu den Zeugen Jehovas hat die Familie Minko seit den 60er Jahren, als weiße Prediger an die Haustür des Vaters klopften. In der Stadt Douala in Kamerun wurde Minko mit 19 Jahren getauft. Wie sein Vater zog er zum Studieren nach Deutschland, wo er mit den strengen Regeln der Organisation brach, auch wenn er offiziell nie austrat. Statt zweimal die Woche brav zu Gottesdienst und Seminaren zu gehen, folgten lange Partynächte, exzessives Fitnesstraining sowie einige Schlägereien und Sex ohne Trauschein – Dinge, die bei den Zeugen Jehovas verpönt sind. Jehova schien vergessen.
„Als ich jünger war, habe ich mich geschämt“, spricht Minko über den ersten Abschnitt seines Lebens als Zeuge Jehovas. In Doula zeigten sie mit dem Finger auf ihn. Die anderen Jungs seiner Clique feierten Partys, trafen sich mit Mädchen, rauchten und tranken Alkohol. Minko tat nichts von alldem. Spätestens um 21 Uhr war er zu Hause. Ein Zeuge Jehovas zu sein war für ihn der Inbegriff des „Uncoolseins“. Er war nur dabei, weil seine Eltern es so wollten. In Deutschland verblasste Jehova nach und nach. Die großen Fragen aber beschäftigten ihn weiter. Warum bin ich hier, und warum lässt Gott mich sterben?
Ein richtiges Zuhause ist Deutschland nie geworden. „Bekanntschaften ja, aber richtige Freunde hatte ich nie“, reflektiert Minko. „Minko hat all das erfahren, was alle Menschen aus fremden Ländern erfahren. Ablehnung, Hass, Spott, Hohn, schlechte Behandlung. Er hat sich nicht wohlgefühlt“, berichtet Hans-Joachim Kofeld. Er überzeugte Minko davon, in den Schoß der Organisation zurückzukehren.
Im Auftrag des Herrn
Vor fünf Jahren stand Kofeld mit seiner Frau das erste Mal vor Minkos Tür. Kofeld ist Mitglied der Ältestenschaft, der Priester unter den Zeugen Jehovas. Er sucht gezielt nach französisch klingenden Namen an Klingelschildern. Mehrfach stand er vor dem Studentenwohnheim, hinterließ den Wachtturm in Minkos Briefkasten. „Damals wollte ich davon nichts wissen. Ich hatte keinen Bock, aber war zu höflich, um sie nicht hereinzulassen“, berichtet der Kameruner. Er zog um, und wieder stand das Ehepaar Kofeld vor der Tür. „Wir haben ihn über lange Zeit immer wieder besucht und ermuntert“, bekräftigt Kofeld. Drei Jahre verstrichen, ehe Minko auf seinem Sofa die Bibelfassung der Zeugen Jehovas las.
Seit zwei Jahren ist der 37-jährige Schwarzafrikaner jetzt wieder dabei und Teil der frankophonen Jehova-Gemeinde: einer von mehr als 23 nichtdeutschsprachigen Gruppen in Berlin; es gibt ebenso armenische, vietnamesische oder Tagalog-Gemeinden der Zeugen Jehovas.
„Der Auftrag Jesu lautet: ‚Macht Jünger.‘ “ Das kann man nur erreichen, indem man Leute anspricht“, sagt Hans-Joachim Kofeld, der Minko missioniert hat. Der 67-Jährige steht vor einem Einkaufszentrum und spricht lächelnd Passanten an. Er hat über 40 Jahre Erfahrung damit. Auf Schwarzafrikaner hat Kofeld ein besonderes Augenmerk: „Da ist die Wahrscheinlichkeit, dass französisch sprechende Leute darunter sind, wenigstens 50:50.“ Seit der ehemalige Englisch- und Geschichtslehrer pensioniert ist, streift er jeden Tag für mehrere Stunden durch die Stadt. Zum Teil ist er an öffentlichen Plätzen präsent, oder er spaziert von Haustür zu Haustür. In seiner Freizeit guckt er Naturfilme und liest Geschichtsbücher. Kofeld spricht mehrere Sprachen fließend.
Zwei bis drei Jahre dauert es in der Regel vom Erstkontakt bis zur Taufe. Drei Anhänger konnte die französische Gemeinde seit Mitte der 90er hinzugewinnen. Minko ist der letzte Neuzugang und passt ins Bild der potenziell Konvertierenden: Menschen in Lebenskrisen oder mit wenigen sozialen Kontakten. Migranten, Kranke, Witwer sowie Jugendliche sind besonders empfänglich. „Gerade Migranten freuen sich, in ihrer Landessprache angesprochen zu werden“, sagt Sektenforscher Utsch. Für viele sei es der erste Schritt in Richtung Familienersatz.
Austritt heißt sozialer Tod
„Sekte bedeutet: Du kommst rein und nicht mehr raus. Aber ich war draußen und habe selbst entschieden, wieder reinzugehen“, sagt Minko. „Neue Mitglieder glauben nur, sie hätten sich freiwillig entschieden“, entgegnet Barbara Kohout. Die Aussteigerin schrieb Bücher und sitzt regelmäßig in Talkshows. Sie war 60 Jahre lang Teil der Organisation und ist eine von schätzungsweise 2.000 Aussteigern pro Jahr. Trotz Fluktuation – „viele Alte sterben“, räumt Kofeld ein – wächst die Organisation jährlich um 2 Prozent. Ihre Mitglieder rekrutiert sie vor allem in Osteuropa und in Afrika. Rund eine Million Zeugen Jehovas leben in den USA, 165.000 in Deutschland. Acht Millionen gibt es weltweit.
MICHAEL UTSCH, SEKTENEXPERTE
Sektenforscher Utsch vermutet, dass ein Drittel der Mitglieder die Organisation verlassen würde, diese Leute aber Angst hätten, ihre Familie und Freunde zu verlieren. Nach dem Ausstieg folgt der soziale Tod durch systematischen „Gemeinschaftsentzug“, die soziale Isolation. Jahrzehntelange Freunde spucken auf den Boden, ignorieren deine Existenz, berichten Aussteiger. Die Gefahr eines Suizids sei erhöht, meint Utsch.
Strikte Verbote seien seltener geworden, sagen verschiedene Sektenforscher. Seit den 90er Jahren erteilen die Ältesten stattdessen Ratschläge. Älteste wie Kofeld überprüfen, wie lange jemand gepredigt hat, empfehlen, nur noch halbtags zu arbeiten oder statt in den Urlaub zum Bezirkskongress der Zeugen Jehovas zu fahren.
„Die Organisation wird unterschätzt“, sagt Sektenexperte Utsch. „Es geht um soziale Kontrolle, Druck, und Menschen werden isoliert. Man wird eingebunden in eine Struktur, die einem die Luft zum Atmen nimmt.“ Diese Erkenntnis komme vielen erst nach Jahrzehnten.
Der Tag X
Minko und Kofeld warten mit rund 80 anderen Zeugen auf den Sonnenuntergang im Königssaal. Einer der acht „Ältesten“ im Raum predigt von Sünde, Tod und Erlösung. Er referiert auf Französisch, mit bayerischem Akzent. Minko hört konzentriert zu. Acht Helfer lassen ungesäuertes Brot und Rotwein durch die Reihen gehen. Minko setzt kurz an, riecht an dem Glas, reicht den Wein dann aber weiter, ohne davon getrunken zu haben. „Ich weiß nicht, was der sich denkt“, sagt er empört zu seiner Frau, als ein Mann in der Reihe vor ihm Brot und Wein konsumiert. Blicke richten sich auf die betreffende Person. Ist er etwa einer der 144.000 Auserwählten, die von den Gaben nehmen dürfen? Einfachen Mitgliedern wird davon abgeraten.
Minko glaubt wie fast alle Zeugen an das Weiterleben im irdischen Paradies nach dem „Harmageddon“. Der Begriff beschreibt eine Zukunftsvision. Für die Zeugen Jehovas ist es der Tag X, an dem die Erde von bösen Menschen gereinigt wird und das Königreich Gottes entsteht. Andersgläubige und Atheisten werden umkommen. Nur die Zeugen Jehovas überleben. Für Minko klingt das plausibel.
Eine Multimedia-Reportage dazu finden Sie auf taz.de