: „Scharia meint nicht Hände abhacken“
MUSLIMBRÜDER Wir sind für einen zivilen und gegen einen religiösen Staat, sagt Abdel Monem Abou el-Fetouh aus der Führung der Muslimbruderschaft. Aber die Scharia soll die wichtigste Quelle des Rechts bleiben
Abdel Monem Abou el-Fetouh, 60, Arzt, einer der Führer der Muslimbruderschaft Foto: privat
INTERVIEW DENIZ YÜCEL
taz: Herr el-Fetouh, haben Sie sich an den Protesten beteiligt?
Abdel Monem Abou el-Fetouh: Natürlich. Diese Revolution ist die aller Ägypterinnen und Ägypter, besonders der jungen.
Waren Sie von Anfang an dabei?
Unsere jüngeren Brüder und Schwestern waren von Anfang an dabei. Wir Führer haben uns, wie die Führer anderer Organisationen, erst später angeschlossen.
… und dann mit Linken, Liberalen und Christen demonstriert.
Wir Muslimbrüder arbeiten seit den Siebzigern mit verschiedenen politischen Strömungen zusammen. Denn alle Ägypter leiden unter den gleichen Problemen: Korruption und Unterdrückung. Und wir alle haben das gleiche Verlangen nach Frieden, Gerechtigkeit und Fortschritt.
Meinen Sie damit das Gleiche wie die Linken und Liberalen?
Wir Muslimbrüder sind für einen demokratischen, gemäßigten und unabhängigen Staat, der die Einheit aller Ägypter berücksichtigt.
Welche Rolle soll die Religion in diesem Staat spielen?
Wir sind gegen einen religiösen Staat. Aber auch ein ziviler Staat sollte die Geografie und die Geschichte dieses Landes respektieren. Die Ägypter sind seit 7.000 Jahren sehr religiöse Menschen. Alle Ägypter, ob Kopten oder Muslime, tragen die Religion in ihren Zellen. Auch die Türkei ist ein ziviler Staat, und die AKP ist eine zivile Partei. Aber sie respektiert die religiösen Werte aller.
Dort gibt es aber keine Bestimmung wie Artikel 2 der ägyptischen Verfassung, der die Scharia als wichtigste Quelle des Rechts definiert. Wollen Sie diesen Artikel ändern?
Das Schlimme an der ägyptischen Verfassung ist das Fehlen von Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit. Sie gibt dem Präsidenten zu viel Macht. Da wollen wir vieles ändern. Der Rest der Verfassung aber ist sehr gut, und wir akzeptieren sie.
Es bleibt also bei der Scharia?
Scharia meint nicht Hände abhacken. Sie in Europa sollten Ihre Vorstellungen von der Scharia an den gemäßigten Muslimen ausrichten, nicht an den Extremisten. Denn im Verständnis der Muslimbruderschaft meint Scharia Freiheit, Gerechtigkeit und Entwicklung, wie es unser Prophet Mohammed gepredigt hat. Ja, es sind in der Scharia auch Strafen vorgesehen. Aber das Strafrecht sollte vom Parlament beschlossen und von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert werden.
Sollten Alkohol oder Sex zwischen unverheirateten Menschen erlaubt sein?
Kein Gesetz sollte die individuelle Freiheit eines ägyptischen Staatsbürgers – ob Mann oder Frau – einschränken. Wenn jemand Alkohol trinken will, ist das seine Sache. In Saudi-Arabien ist es Frauen untersagt, das Haus allein zu verlassen. In Frankreich es ist ihnen verboten, ein Kopftuch zu tragen. Beides ist nicht richtig, beides verstößt gegen ihre Freiheiten. Und es ist etwas anderes, ob man Frauen dazu rät, ein Kopftuch zu tragen, oder ob man sie dazu zwingt.
Welche Außenpolitik soll Ägypten in Zukunft verfolgen, zum Beispiel im Hinblick auf Israel?
Wir sollten – auf Grundlage unserer eigenen Interessen – gute Beziehungen zu der internationalen Gemeinschaft pflegen. Bei internationalen Beziehungen ist Einvernehmen anzustreben. Und der Islam wie das internationale Recht sehen vor, dass Abkommen respektiert werden. Aber Abkommen können verändert oder gekündigt werden. Darüber muss ein frei gewähltes Parlamente entscheiden.
Welche Abkommen wollen Sie ändern? Den Friedensvertrag mit Israel von 1978?
Wir Muslimbrüder sind nur eine Gruppe von Ägyptern. Es geht nicht darum, was wir wollen, sondern was die Mehrheit der Ägypter will. Wir müssen akzeptieren, was diese Mehrheit fordert oder ablehnt, auch wenn dies unseren Ideen widerspricht.
Und welche sind nun Ihre außenpolitischen Ideen?
Wir brauchen eine unabhängige Außenpolitik, die unseren Interessen entspricht, nicht dem Interesse Amerikas oder anderer.