: Kopftuch und freie Meinung
betr.: „Deligöz will weiter debattieren“, taz vom 2. 11. 06
Wenn ich mich richtig erinnere, dann beinhaltet die Meinungsfreiheit nicht nur die Freiheit der und zur richtigen Meinung, sondern auch die der und zur falschen, weil nur so der freie Diskurs, manche sagen auch Wettstreit, darüber, was denn nun richtig oder falsch sei, gewährleistet ist. Das ist so ungefähr der Inhalt der grundrechtlich verbrieften Meinungsfreiheit, die auch Voraussetzung der Freiheit des religiösen Bekenntnisses ist. Und dann meine ich mich noch zu erinnern, dass, wenn überhaupt es so etwas wie mit dem Grundgesetz, auch und gerade mit seinem Menschenrechtsteil, verbundene Werte gibt, die Menschenwürde deren höchster sei. Was alles auch uneingeschränkt für Frauen gilt, unabhängig davon, ob sie sich irgendwelchen parteipolitisch im Grundgesetz oder unserer Gesellschaft oder in beidem verankerten Werten verbunden oder verpflichtet oder unterworfen fühlen oder nicht. Was folgt daraus?
Wenn Frauen Menschen sind, dann gilt dies auch für Frauen mit Kopftuch oder Tschador oder Burka oder oder oder … ungeachtet dessen, ob sie ein religiöses oder kulturelles oder weltanschauliches oder sonst wie und dergleichen Accessoire freiwillig tragen oder unfreiwillig. Weshalb erst einmal niemand zu untersuchen und zu bewerten hat, ob der jeweilige Körperschmuck freiwillig getragen wird oder nicht. Immerhin ist ja nicht zu vergessen, dass im Tragen des einen oder anderen Körperschmucks ein grundgesetzlich als Menschenrecht geschütztes Bekenntnis wie das religiöse zum Ausdruck kommen könnte, nicht muss. Weshalb es sich von selbst verbietet, Frauen mit Kopftuch öffentlich dazu aufzufordern, selbiges abzulegen, um in dieser Gesellschaft – und damit in der Moderne? – anzukommen und sich von Unterdrückung freizumachen. Der Zusatz, dass die, welche das Kopftuch freiwillig tragen, das ja weiterhin tun könnten, macht die Sache nicht besser, denn damit wird implizit von einer jeden verlangt, jederzeit den unwiderleglichen Nachweis der Freiwilligkeit zu führen. Dahinter versteckt sich religiöser Gesinnungsterror im säkularen Gewand. Der war aber mit der Trennung von Staat und Kirche nicht beabsichtigt.
Und wenn nun die Grünen aus gegebenem Anlass fünf Islam-Vertreter einladen, um sie im quasi-öffentlichen Ritual dem Islamismus (oder was eigentlich?) abschwören zu lassen, dann erinnert das fatal an die mittelalterliche Sitte des vorösterlichen öffentlichen Disputs des christlichen Klerus mit Rabbinern, welcher regelmäßig damit endete, dass die Rabbiner sich mehr oder weniger drastisch dem christlichen Primat unterwerfen mussten – was bekanntlich den auch nach diesem Ritual fortgesetzten christlichen Glauben, die Juden seien z. B. Brunnenvergifter und damit Pestverursacher, nicht gehindert hat. Mit den bekannten Folgen. Um es zuzuspitzen: Eigentlich sollte Frau Deligöz den unwiderleglichen Nachweis führen, dass ihr Aufruf im wahrsten Sinne des Wortes freiwillig (und gut durchdacht) erfolgte. Und sei es, um sich gegen Beifall von der falschen Seite abzusichern. Der kommt beispielsweise als die Erklärung von Herrn Pofalla daher, sie habe doch nur ausgesprochen, was viele denken. Eine solche Absicherung scheint mir notwendig, denn die Meinungsfreiheit schützt wiederum nicht nur das, was viele denken, sei es richtig oder falsch, muss ich hinzusetzen, sondern die Freiheit der Meinung einer und eines jeden Einzelnen.
CHRISTINE RÖLKE-SOMMER, Berlin