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Archiv-Artikel

Koalition für geringere Beiträge

Steuerschätzer erwarten bis zu 42 Milliarden Euro Mehreinnahmen. Union und SPD werden wohl einen Teil davon verwenden, um die Lohnnebenkosten zu reduzieren

BERLIN taz ■ Der Aufschwung ist da, und auch die Steuereinnahmen fließen reichlich. Wenn die Steuerschätzer heute die Staatseinnahmen für 2006 und 2007 prognostizieren, werden sie wohl eine schöne Zahl präsentieren. Bis zu 42 Milliarden Euro mehr als gedacht liefern die Bundesbürger und Unternehmen bei den Finanzämtern ab: 23 Milliarden Euro 2006 und 19 Milliarden im kommenden Jahr. Treffen die Vermutungen zu, könnte Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) mit 11 zusätzlichen Milliarden in diesem und 5 Milliarden mehr 2007 rechnen.

Nun ist die Bundesregierung in der angenehmen Situation, einmal nicht jeden Euro umdrehen zu müssen. Ökonomisch betrachtet, lautet die entscheidende Frage: Wie rettet man den gegenwärtigen Aufschwung in die kommenden Jahre? Drei Varianten wird die große Koalition heute Nachtmittag beraten. Erstens: Die Sozialbeiträge könnten weiter sinken, damit die Bürger mehr Geld ausgeben. Zweitens: Der Staat nutzt die gute Situation, um weniger Schulden zu machen. Drittens: Mehr staatliche Investitionen ersetzen teilweise die Nachfrage, die die Mehrwertsteuererhöhung ab Januar den Bürgern entzieht.

Mindestens genauso wichtig wie die Ökonomie freilich ist die politische Stimmungslage. Der jüngsten Forsa-Umfrage von Ende Oktober zufolge würden nur noch 28 Prozent der Befragten die Union wählen, 29 Prozent die SPD. Den dramatischen Verfall ihres Ansehens führt Bundeskanzlerin Angela Merkel auch auf das Image der sozialen Kälte zurück, das viele Bundesbürger der CDU zuschreiben.

Um hier einen Kontrapunkt zu setzen und nicht als autistische Sachwalterin der Sparpolitik dazustehen, plädierte die Kanzlerin erst gestern dafür, die „Lohnzusatzkosten zu senken“. Während bisher eine Reduzierung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 auf 4,5 Prozent eingeplant ist, peilt die Union nun 4,2 Prozent an. Weiterhin will Merkels Generalsekretär Ronald Pofalla die Beiträge zur Krankenversicherung „stabilisieren“. Soll heißen: Einige der zusätzlichen Steuermilliarden möchte die Berliner CDU-Spitze nutzen, um die eigentlich notwendige Anhebung der Kassenbeiträge zu verhindern. Merkel und Pofalla senden die Botschaft: Wenn mehr Geld da ist, denken wir an die kleinen Leute.

Bundesfinanzminister Peer Steinbrück, wichtigster SPD-Minister neben Franz Müntefering, verkörpert dagegen die sozialdemokratische Pflicht zur Sanierung Deutschlands. Den zusätzlichen 11 Milliarden Euro in diesem Jahr stünden Haushaltsrisiken in ähnlicher Höhe gegenüber, lässt Steinbrück verkündigen. Mit anderen Worten: Es gibt eigentlich nichts zu verteilen – und wenn doch, dann müsse man zuallererst die Neuverschuldung reduzieren. Nur widerstrebend hat der Finanzminister sich deshalb auf die Überlegung eingelassen, den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung weiter zu senken.

Die dritte Variante möglicher Finanzpolitik spielt bislang nur eine Nebenrolle: mehr Investitionen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) schlägt vor, zusätzliches Geld für Bildung auszugeben. Theoretisch befürwortet die Koalition dieses Ziel, praktisch zurzeit eher nicht. HANNES KOCH