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Archiv-Artikel

Kein Anschluss unter dieser Nummer

Im März wird in Kiel das Literaturtelefon abgeschaltet. Es war das erste seiner Art in Deutschland. Eine Geschichte, die in der Ära von Andy Warhol begann, nähert sich damit ihrem Ende. Das ältere Stammpublikum muss sich jetzt mit dem Internet anfreunden

Bevor es Minidisk und MP3-Player gab, trug Angelika Stargardt vom Kieler Literaturtelefon den großen Aufnahmekoffer mit sich herum

VON ILKA KREUTZTRÄGER

In der Leitung rauscht und knistert es. Es klingt, als ob die Telefone noch schöne statt einfach nur praktische Hörer hätten, Gabeln, auf die man den Hörer werfen kann und runde Wählscheiben, die sich nach dem Wählen leise ratternd zurück zum Ausgangspunkt drehen. „Sehr geehrte Damen und Herren, herzlich willkommen im Literaturtelefon der Landeshauptstadt Kiel“, knarzt eine Männerstimme aus dem Hörer. Nach der etwas steifen Begrüßung erfährt der Anrufer auf Literatursuche, dass in dieser Woche der Kieler Autor Arne Rautenberg Kindergedichte aus seinem Buch „Träumende Eulen“ vorliest. Ende Februar ist nun Schluss damit, dann wird das erste deutsche Literaturtelefon abgeschaltet.

Die Literatur aus dem Telefonhörer hat die amerikanische Pop-Art erfunden. Die Idee hatte der Schriftsteller John Giorno. Giorno wollte die Poesie ähnlich populär machen wie Warhol die Malerei. 1968 gründete er das weltweit erste Literaturtelefon. Es hieß „Dial a Poem“ und war gewissermaßen der Wegbereiter der Hörbücher.

Michael Augustin, ein Autor aus Kiel, brachte die Idee 1978 nach Deutschland. Augustin hatte in einer Londoner Tageszeitung die Anzeige eines englischen Literaturtelefons gelesen und war sofort begeistert. In den Anfangszeiten schien es fast ein bisschen so, als hätten die Literaturliebhaber nur darauf gewartet, sich am Telefon Gedichte und Geschichten vorlesen zu lassen. Aber die Zeiten, in denen in einer Woche mehr als 1.000 Leute anriefen, seien lange vorbei, sagt Angelika Stargardt vom Kieler Kulturamt, die für das dortige Literaturtelefon zuständig ist. Heute seien es nur noch etwa 80 bis 150 Anrufer pro Woche. Zu wenig, fand die Kieler Ratsversammlung und beschloss, das Telefon nicht mehr zu unterstützen. Diskutiert wurde in Kiel schon lange, ob das Literaturtelefon noch zeitgemäß sei, sagt Stargardt. Nun wird es ernst.

Zu den Hochzeiten der Instution gab es bundesweit 20 Literaturtelefone. Und für viele Autoren war es in den 80er und 90er Jahren nicht weiter ungewöhnlich, dass sie nach ihren Lesungen zur Seite genommen wurden, um für die Literaturtelefone kurze Passagen aus ihren Werken vorzulesen. Für das Kieler Literaturtelefon sprachen unter anderem Günter Grass, Siegfried Lenz, Peter Härtling oder auch Sarah Kirsch die etwa fünf Minuten langen Gedichte oder Ausschnitte aus ihren Romanen auf Band und bekamen dafür früher 50 Mark. Heute sind es 26 Euro. Der Preis habe sich nicht verändert, sagt Stargardt.

Verändert hat sich seit 1978 auch sonst kaum etwas. Außer der Aufnahmemethode natürlich. Bevor es Minidisk und MP3-Player gab, trug Angelika Stargardt vom Kieler Literaturtelefon den großen Aufnahmekoffer mit sich herum, nahm die Literaturschnipsel auf Tonband auf und überspielte sie auf den Anrufbeantworter des Literaturtelefons. Die Tonbandrollen bewahrte Stargardt so lange in einem alten Apothekerschrank auf, bis der voll war. Seitdem verstaut sie alles in Kisten. Im Kieler Archiv lagern ungefähr 1.500 Aufnahmen.

Bis Ende der 90er Jahre unterstützte die Telekom die deutschen Literaturtelefone mit kostenlosen Rufnummern. Die Literaturtelefone seien so etwas wie eine Institution gewesen, irgendwo zwischen Zeitansage und Wetterdienst, sagt Siegried Fahrer vom Literaturtelefon in Mainz, dem nach Kiel zweitältesten in Deutschland. „Das ist ja fürchterlich“, sagt sie zu der Nachricht vom Ende des Kieler Telefons. Für sie geht damit „ein Stück Kultur verloren“. Dabei grenzt es doch eigentlich eher an ein Wunder, dass es die Literaturtelefone heute überhaupt noch gibt.

Der Niedergang der Telefonliteratur begann Ende der 90er, als sich das Internet ausbreitete und die Telekom die kostenlosen Nummern nicht mehr bereitstellen mochte. Viele Städte wie Bremen oder Münster gaben ihre Literaturtelefone auf. Andere wie Hamburg verlagerten die Kurzlesungen der Autoren komplett ins Internet. Hier können Literaturinteressierte die vorgetragenen Gedichte und Geschichten nicht nur als Audiodatei anhören oder herunterladen, sondern finden den Text auch noch als PDF-Dokument zum Selberlesen.

Das klingt nach Fortschritt, und die Frage drängt sich auf, wozu es überhaupt noch Literaturtelefone braucht. Ein wenig sei da sicherlich auch Nostalgie mit im Spiel, gibt Angelika Stargardt vom Kieler Literaturtelefon zu. Aber sie glaubt auch, über das Telefon ein anderes Publikum ansprechen zu können als über das Internet. Älteren Leuten ohne Internetanschluss würde ohne die wöchentlich neuen Geschichten im Literaturtelefon etwas fehlen, sagt sie mit Blick auf ihr Stammpublikum.

Aber noch hoffen die Kieler, dass das Literaturtelefon gerettet werden kann. Es müsse eine Möglichkeit geben, auch ohne städtische Unterstützung weiterzumachen, sagt Stargardt. Es würden Gespräche geführt. Mit wem, will sie allerdings nicht sagen. Auch nicht, wie die Rettungspläne aussehen. In einem Monat wisse sie mehr.

Eine Möglichkeit deutet sie dann aber doch an. Es könne sich ja eine Initiative finden, die das Literaturtelefon übernimmt, meint Stargardt. Sollte das nicht funktionieren, wäre es auch für das Kieler Kulturamt denkbar, den Weg ins Internet zu gehen. So ganz überzeugt scheint Stargardt davon aber nicht zu sein. Ein Telefonhörer ist eben etwas anderes als eine Audiodatei.

Noch ist aber für die Liebhaber des Telefons nicht alles verloren. In Mecklenburg-Vorpommern und Ostfriesland gibt es noch Literatur vom Anrufbeantworter. Und in Kassel denkt man sogar über die Neugründung eines Literaturtelefons nach.

In Kiel jedoch wird es unter 0431/901-1156 bald heißen: „Kein Anschluss unter dieser Nummer“.