: Stilvoll ausgefranst
Beim JazzFest wurde in Filmen und Konzerten vor allem der europäische Free-Jazz gewürdigt. Notizen aus der Hauptstadt der improvisierten Musik
von CHRISTIAN BROECKING
Sartre soll Miles Davis gefragt haben, warum er Juliette Gréco nicht heirate. Weil er sie nicht unglücklich machen wolle, so die von Davis kolportierte Antwort. Schließlich galt eine weiße Pariserin, die mit einem amerikanischen Schwarzen verheiratet war, damals als Hure, fügt Gréco erklärend hinzu. Und trotzdem fanden die amerikanischen Schwarzen, die nach dem Zweiten Weltkrieg den Bebop nach Paris brachten, ein gesellschaftliches Klima vor, das so ganz anders war als der Rassismus und die Armut daheim.
Man hätte Gréco allzu gern bei der Weltpremiere von Julian Benedikts neuem Film „Play Your Own Thing“, mit dem das JazzFest 2006 am Mittwochabend im Berliner Delphi-Kino begann, auch auf der Bühne gesehen. Zu den prominenten Gästen, die in Benedikts Film zu Wort kommen und die extra für die Filmpremiere nach Berlin reisten, gehörten der dänische Trompeter Palle Mikkelborg und der deutsche schon lange auf Ibiza lebende Pianist Joachim Kühn, beide Protagonisten des europäischen Szene. Ja, sagt Kühn, es gibt eine europäische Szene, ja, sagt Mikkelborg, es gibt einen europäischen Ton.
In Benedikts Film ist dieser auch zu hören, als Offstimme schon gleich von Anfang an und kurz vor Schluss auch musikalisch, Stand: Anfang der Siebzigerjahre. Wenn man aber etwa Jan Garbarek nach seinen aktuellen Projekten fragt, kommt eines von ihm ganz klar: Mit Jazz hat das, was er heute spielt, schon lange nichts mehr zu tun.
Der Trompeter Tomasz Stanko ist im Film wiederholt zu sehen, in den Sechzigerjahren als junger Musiker im Ensemble des polnischen Pianisten Krzysztof Komeda und knapp 40 Jahre später bei Studioaufnahmen mit dem Produzenten Manfred Eicher für das Münchner ECM-Label sein junges polnisches Begleittrio spielte nach der Filmpremiere im Jazzclub Quasimodo zwei kammermusikalisch orientierte Sets. In Zusammenarbeit mit ECM ist Stanko in den letzten Jahren gelungen, wovon viele europäische Jazzmusiker kaum zu träumen wagen: eine Karriere in den USA. Im Film spricht er davon, dass der Jazz damals im „kommunistischen Polen“ Freiheit bedeutete; und ein Archivfoto zeigt eine staatstreue Jazzperformance in der DDR.
Männer sitzen in einem engen Konferenzraum und schauen auf einen Herrn, der vor ihnen steht und mit Plattenspieler und Verstärker Jazzplatten vorführt. Diese Art, Jazz zu hören, habe nichts mit revolutionären Inhalten zu tun gehabt, referiert Georg Baselitz von seinem Atelier aus, sitzend. Er nennt Ausnahmen wie den Künstler A. R. Penck, der später mit 50.000 Westmark die schwarze New Yorker Free-Jazz-Szene unterstützte, doch im Film kommt er nicht vor.
Der New Yorker Bassist William Parker, der 1983 von Penck das Geld bekam und heute das Vision Festival in New York leitet, ist einer der engagiertesten und politisch motivierten Musiker des aktuellen afroamerikanischen Jazz. Er eröffnete das traditionell parallel zum JazzFest laufende Total Music Meeting in der Berlinischen Galerie in einem Trio mit dem Chicagoer Schlagzeuger Hamid Drake und der Obertonsängerin Sainkho Namtschylak, die 1957 in der südsibirischen Republik Tuva geboren wurde. In den vergangenen Jahren hat sich die zurzeit in Berlin lebende Improvisationskünstlerin mit öffentlichen Auftritten rar gemacht, die Ausnahme ist dieses Trio, das sie bei jedem Auftritt vor neue Herausforderungen stelle, wie sie backstage nach einem äußerst bewegenden, doch auch beunruhigend richtungslosen Konzert berichtet.
Mit ihrer Stimme operiert sie nicht nur in den tiefen Tonlagen, wie sie bei den Schamanen ihrer Heimat Tradition haben, sie produziert Geräusche, Geschrei, Gemurmel, Geflüster – viele Dinge und Techniken, die sie im Laufe der Zeit für sich entdeckt hat; und doch würden der auch als Dichterin aktiven Namtschylak die Worte fehlen, wenn sie beschreiben müsste, was bei so einem Konzert wirklich passiert. Bei ihr bleibt die Improvisation nicht Rätsel, sondern Geheimnis, „heilige, heilende Musik“, nennt William Parker das.
Der Filmemacher Julian Benedikt hatte schon vor der JazzFest-Premiere Kritik eingedämmt, in dem er sich mit dem Rückzug auf subjektive Befindlichkeiten und Kenntnislagen aus der Verantwortung zog. Gut, auf Axel Dörner, Zentralquartett, Bugge Wesseltoft, Nils Petter Molvaer, E.S.T., Soweto Kinch oder Nils Wogram mag man vergebens in Benedikts neuem Film warten. Und klar ist eigentlich auch, dass es neben ECM noch andere Plattenlabels gab und gibt, die sich um die europäische Jazzszene verdient gemacht haben.
Die Bemerkung von Joachim Kühn jedoch, dass es gut tue, endlich mal europäische Musiker in einem Jazzfilm reden und spielen zu sehen, könnte man als kleinsten gemeinsamen Nenner vielleicht erst mal so stehen lassen. Es sei eben der Ton, sagt Mikkelborg im Gespräch während seines Premierenbesuchs, etwas Unverkennbares, sofort Identifizierbares, Eigenes, darum gehe es. Ob man das nun Jazz nenne oder Improvisationsmusik, sei ihm jedoch völlig egal. Miles Davis und Gil Evans hätten ihm gesagt, dass es ein ganz besonderer Umgang mit Zeit und Melodien sei, den sie als europäisch schätzen würden. Die Zeit, die sich Garbarek oder er nehmen würden, hätten die auf den Punkt orientierten Amerikaner quasi per Definition schon gar nicht, fügt Mikkelborg hinzu.
Erstaunlich an dem Film ist die fast vollständige Abwesenheit von Radikalität und gesellschaftlicher Reflexion – in Benedikts Geschichte des Jazz in Europa schien lediglich der alte Osten mal ein Problem gehabt zu haben. Doch komisch, auch wenn Joachim Kühn im Film berichtet, wie er vor 40 Jahren die DDR Richtung Wien für immer verließ, bleibt die deutsche Free-Jazz-Szene in „Play Your Own Thing“ quasi bilder- und tonlos. Benedikt ist es gelungen, so ziemlich alles, was aufmüpfig oder kompromisslos klang, in so kleinen Schnipseln und derart schnellen Schnittfolgen zu verstecken, dass man von dieser Geschichte in seiner Geschichte „des Jazz in Europa“ kaum was mitbekommt.
Einmal ist ganz kurz der Erfinder der Berliner Jazztage, Joachim-Ernst Berendt, im Bild. Fast verschwommen, fast nicht mehr wahr. Berendt hatte dem Pianisten und Komponisten Alexander von Schlippenbach das Gründungskonzert seines Globe Unity Orchesters bei den Jazztagen 1966 ermöglicht, beim JazzFest fand nun der große Gig zum Vierzigsten statt. Immerhin.
Die Politisierung des Jazz habe damals bewirkt, dass die Musiker ihre Geschäfte in die eigenen Hände nahmen, berichtet Schlippenbach, dass Musikerkollektive wie die Berliner Free Music Production gegründet wurden, die eigene Konzertreihen und Festivals organisierten und von Marktkriterien weitgehend unabhängig auch Platten produzierten, die gemeinhin als unverkaufbar gelten. „Als wir mit dem Free Jazz anfingen, waren traditionelle Formen verboten. Das hat sich aber überlebt“, resümiert Schlippenbach.
Geblieben sind stolze Soli der teils weit über sechzigjährigen Musiker, neben denen auch Globe Unity Neuzugänge brillierten wie der Bassklarinettist Rudi Mahall, der Posaunist Jeb Bishop und der Trompeter Axel Dörner, der erst jüngst mit einem wichtigen deutschen Jazzpreis ausgezeichnet wurde. In letzter Zeit sei alles ein bisschen ausgefranst, sagt Schlippenbach, „Weltmusik und ähnliche Dinge, die sich vermischen“, da versuche er sich auf das zu konzentrieren, was ihm wertvoll ist: Improvisation.
„Play Your Own Thing“ also auch hier, doch die suggerierte Tradition und Autonomie eines von den afroamerikanischen Wurzeln angeblich emanzipierten europäischen oder deutschen Jazz kritisiert Schlippenbach als verzweifelten Versuch, eine verkäufliche Identität zu erfinden. Im Gespräch mit dem afroamerikanischen Posaunisten George Lewis wird zudem deutlich, das FreeJazz auch Disziplin fordert. Schlippenbach habe Lewis jedenfalls untersagt, seine „little instruments“, kleine Flöten und so, zu benutzen, und er habe kein Problem damit, diesen Wunsch zu respektieren.
Von Schlippenbachs Arrangements profitierten vor allem Solisten, die sich nicht gegen die sich überlagernden Klangstürme des Orchesters behaupten mussten, sondern Entwicklungsraum für den eigenen Ton bekamen. Diese ruhigeren Gelegenheiten füllten der durch einen Schlaganfall sichtlich geschwächte Trompeter Kenny Wheeler mit einem nach wie vor zauberhaften Ton ebenso wie der Saxofonist Evan Parker, zirkular rigoros, auf dem Sopran; das große Solo zum Schluss kam von Dörner – mit allerlei seltsam klingenden Geräuschen, die in der Gegenwart ankamen.