: Zum Lachen in den Betonbau
Der Deutsche Bundestag besitzt die weltweit einmalige und größte Sammlung von Karikaturen. Rund 400.000 Ausschnitte aus Zeitungen und Magazinen lagern in einem Archiv in Berlin. Langfristig bewahren kann sie jedoch nur ihre Digitalisierung
VON GUNNAR LEUE
2006 wird als Jahr in die Annalen eingehen, in dem die Satireschaffenden für globalen Aufruhr sorgten wie selten zuvor, vor allem durch den Karikaturenstreit. Besser also, dürfte sich nicht nur mancher Politiker sagen, man ließe den brisanten Satirestoff in einem großen Betonbunker verschwinden und nur Befugte hinein – wie es mitten in Berlin schon geschieht. Neben dem Reichstag steht ein gut gesicherter Betonbau, in dem massenhaft Satireware hinter dicken Betonmauern verschlossen ist.
Dort befinden sich – bei konstant 18 Grad Celsius und 40 Prozent Luftfeuchtigkeit – meterweise Aktenschränke mit Karikaturen. Rund 400.000 – die meisten als Zeitungsausschnitt sauber einzeln auf ein A 4-Blatt geklebt – zählen zum Bestand dieser weltweit einmaligen Sammlung. Dass sie so gut gesichert ist, hat jedoch nichts mit der weltpolitischen Brisanz der Zeitungssatire zu tun, sondern mit dem Eigentümer. Der Deutsche Bundestag archiviert sie in seiner Pressedokumentation.
Unter den 5.000 Regalmetern mit Ordnern voller Presseausschnitte bilden die zehn „Kari“-Aktenregale nur eine kleine Teilstrecke. In ihnen lagert Pointenstoff, der von 1949 bis 1999 vor allem in deutschen Zeitungen erschien – Klaus Pielerts berühmte „Wahllokomotive“ mit Ludwig Erhard als schnaufender Lok im Bundestagswahlkampf 1965 ebenso wie die legendäre Zeichnung des DDR-Karikaturisten Roland Beier, die das Ende der realsozialistischen Epoche 1990 genial versinnbildlichte: Ein arglos herumstehender Karl Marx sagt beiläufig: „Tut mir leid, Jungs, war halt nur so ’ne Idee von mir“.
Seit sieben Jahren werden die aktuellen Satiredrucke elektronisch als PDF-Datei gespeichert. Täglich kommen etwa 20 neue Zeichnungen hinzu, die die 30 Mitarbeiter der Pressedokumentation aus rund 60 Tageszeitungen der Republik – vom Bayernkurier bis zum Neuen Deutschland – auswerten. Auch Wochenzeitungen und Magazine werden ausgeschlachtet, allerdings keine Satirezeitschriften wie Titanic. Der Satire misst der Leiter der Pressedoku, Dr. Gerhard Deter, nur eine Randbedeutung bei. Karikaturen allerdings hält der Historiker für „eine wichtige Quelle zur Widerspiegelung politischen Zeitkolorits“ und verweist auf die berühmte englische Karikatur über Bismarcks Entlassung als Kanzler 1890: „Der Lotse verlässt das Schiff“.
Auch wenn dem Westfalen die Leidenschaft für Karikaturen fehlt, ist er stolz auf den „über fünf Jahrzehnte gewachsenen Schatz“. Schließlich gehören zu ihm auch Karikaturen aus lange eingestellten Blättern wie dem Hamburger Echo und aus verschiedenen DDR-Zeitungen. Als Nachdruck sind selbst Werke aus dem sowjetischen Satiremagazin Krokodil präsent.
Vor allem der von 1974 bis 1999 in Bonn amtierende Pressedoku-Chef Walther Keim machte sich um die Gestaltung der seiner Meinung nach „letzten Humorecke im Bundestag“ verdient. Der Beamte liebte Karikaturen und erstellte Jahresranglisten der meistkarikierten Politiker, die besonders oft Kanzler Kohl anführte. Zuweilen brachte er es auf 2.000 Abdrucke im Jahr. Insgesamt füllt er im Berliner Archiv 49 Ordner mit je rund 500 Blättern, macht zusammen rund 25.000 Kohl-Köpfe in Birnenform.
Wahrscheinlich würde sich auch ein größeres Publikum für die Sammlung interessieren. Dass sie vorwiegend den Parlamentariern vorbehalten ist, liege an restriktiver gewordenen Vorschriften und am Geld, sagt Gerhard Deter. Der Ankauf der Rechte habe sich so verteuert, dass man finanziell „längst an die Grenze des Möglichen gestoßen“ sei und bereits die Auswertung ausländischer Zeitungen komplett eingestellt habe (noch bis 2005 bereicherten auch fünf englische und französische Zeitungen den Karikaturenbestand, darunter Times, Economist und Le Monde). Die umstrittenen Mohammed-Karikaturen aus der dänischen Jyllands-Posten sind über den Umweg des Nachdrucks in taz oder Welt trotzdem im elektronischen Teil der Berliner Sammlung enthalten.
Seit der Umstellung auf die elektronische Archivierung darf das Material nur noch innerhalb des Hauses verwendet werden. „Das Urheberrecht erlaubt es uns nicht, die Sammlung nach außen stärker zu popularisieren, zum Beispiel durch Ausstellungen“, sagt Gerhard Deter. In Bonn war man nicht nur diversen Ausleihwünschen nachgekommen, sondern auch dem Interesse von Wissenschaftlern. Amerikaner erforschten die Darstellung des Rechtsradikalismus in der Karikatur, und deutsche Studenten nutzten das Archiv für Arbeiten über die karikaturistische Widerspiegelung des Golfkrieges oder „Die bipolaren Eigenschaftsdimensionen bei Helmut Kohl und Helmut Schmidt als Bundeskanzler in der Karikatur“.
Langfristig droht allerdings der Zerfall der Sammlung, weil das Zeitungspapier bis in die Siebzigerjahre hinein stark säurehaltig war. Rettung bringen kann nur eine komplette Mikroverfilmung und Digitalisierung. 35.000 Filme mit deutschen und internationalen Zeitungen sind bereits als Ganzausgaben archiviert, darunter viele Karikaturen aus Vorkriegszeitungen. Außerdem, so Gerhard Deter, müsste der Bestand aus den Jahren 1949 bis 1974 „verschlagwortet“ werden, um die Systematik des Archivs zu gewährleisten. „Dafür bräuchten wir eigentlich Historiker, schließlich muss man frühere Politiker, die nicht im Text einer Karikatur verewigt sind, erst erkennen.“ Nicht jeder Politiker, der in einer Karikatur auftaucht, ist eben eine Ruhmesgröße.