ALLER ANFANG IST SCHWER: GRUNDKURS NORMALITÄT
: Einsamer als Hunde

Liebling der Massen

ULI HANNEMANN

Manchmal habe ich das Bedürfnis, so zu tun, als wäre ich ein ganz normaler Mensch. Mit Freunden, Bekannten, einem erfüllten Leben, echten Gefühlen außer Hass und Raserei und sogar einer Beziehung. Also einer Zweisamkeit, die einmal nicht nur darin besteht, dass man sich an der Bushaltestelle zufällig nebeneinander aufhält und eine Person – in meinem Fall ist es eigentlich immer die andere – irgendwann wortlos geht, bestenfalls vielleicht noch ausspuckt und dabei Verwünschungen murmelt.

„Seht her“, will ich meiner Umgebung zeigen, „ich bin ganz normal, ich bin einer von euch. Ein weichgekochtes Ei zum Frühstück, Zahnseide, Telefongespräche, die man entgegen jeder Vernunft mit zeitmordenden Floskeln wie ‚Hallo‘ beginnt, mit einem stümperhaft selbst getöpferten Schild an der Wohnungstür: ‚Hier leben, lieben und lachen Sieglinde, Dieter und Christel Meth‘.“

Das ist wie Urlaub für mich, eine kurze Erholung von meiner anstrengenden Außenseiterexistenz. So wie der tapfere und kluge Lachs, der sich nach tausend Meilen Einzelkampf stromaufwärts nur für wenige Sekunden einfach treiben lässt: Oh, wie gut das tut! Die Leute haben ja keine Ahnung, wie seelisch ermüdend es ist, ihr ständiges Getuschel zu ertragen, ihre irritierten Blicke und nicht zuletzt auch ihre Angst und Abscheu.

Mein Experimentierfeld ist in solchen Fällen die Supermarktkasse. Sonst kenne ich ja niemanden, sonst gehe ich ja nirgendwo hin. Üblicherweise kaufe ich hier ein Messer oder ein Bier. In den meisten Fällen erwerbe ich jedoch gar nichts, sondern lasse nur in einem fort die abgestellten Einkaufswagen ineinanderkrachen.

Doch heute soll mein Einkauf Normalität signalisieren. Schlau habe ich eine anrührende Normalo-Collection im Einkaufswagen zusammengestellt: Erdbeeren. Ein Flasche Crémant. Einen kleinen Blumenstrauß. Eine Zeitung. Verschiedene Zutaten, wie um ein richtiges Gericht daraus zu kochen. Beifallheischend blicke ich mich in der Schlange um und deute stolz auf meine Waren. Fast bin ich versucht, mit den Umstehenden ein Gespräch anzufangen, das sich nicht um Exkremente oder Tod dreht, lasse es dann aber doch, mangels Routine. Schließlich will ich ja eben gerade nicht auffallen.

Das scheint zu gelingen. Die Leute gucken gleichgültig. Nicht freundlich, nicht interessiert, aber immerhin gleichgültig – das ist schon ein Fortschritt. Als ich dran bin, erkläre ich der Kassiererin meine Einkäufe: „Hier Erdbeeren – ich bin ein Schleckermäulchen mit Herz. Ich liebe Süßes. In der Zeitung werde ich lesen, um mich über die Welt zu informieren. Das ist wahnsinnig interessant. Und hier?“ Munter lüge ich weiter das Blaue vom Himmel: „Ich koche heute etwas, um es danach aufzuessen. Zusammen mit meiner Freundin. Ich habe nämlich eine Freundin. Für die ist übrigens auch der Blumenstrauß und der französische Fotzenfusel. Ich bin aufmerksam und lieb – ich habe mein Hirn an der Garderobe zur Hölle abgegeben. Wir laden Freunde ein. Also andere Arschlöcher, die wir kennen. Wir werden lachen und uns über gequirlte Scheiße unterhalten. Erdnüsse und Dias vom Sardinienurlaub. Ach, was bin ich froh!“

Ich bin mir sicher, dass ich keinen Fehler gemacht habe und absolut authentisch wirke. Wie so ein ganz normaler, langweiliger Gesellschaftsarsch. „Das interessiert mich nicht“, sagt sie. „Ich weiß sowieso, dass alle hier lügen. Ihr seid allesamt einsamer als die letzten Hunde.“

Sie scheint doch etwas gemerkt zu haben, schade. Aber wodurch habe ich mich bloß verraten? Und wieso sollen ausgerechnet die letzten Hunde so besonders einsam sein: weil die vorletzten sie verlassen haben? Ein wenig beschämt packe ich meinen Kram ein, um das meiste später wegzuwerfen. Den Prosecco versuche ich draußen an die Penner zu verschenken. Sie wollen ihn nicht. Nicht von mir. In ihren Augen mischt sich Mitleid mit Verachtung.