Aiaiooooo-aiaioooo

POLARKREIS Das Festival Riddu Riddu im Norden Norwegens steht vor allem für die Musik der Sámi. Dabei wird das Joiken, der traditionelle Gesang der Bevölkerung, mit Elektro und Pop gemischt – und so zum rebellischen Akt

Lange waren die Sámi ein unterdrücktes Völkchen, ein bisschen wie die Sinti und Roma des Polarkreises

AUS MANNDALEN JENS UTHOFF

Es ist ein Uhr nachts. Im Tal ist es taghell. Es riecht nach Lagerfeuer, nach nassem Gras, ausgeschwitztem Alkohol. In der kleinen Ortschaft Manndalen, im äußersten Norden Norwegens gelegen, ziehen vereinzelt Gestalten über die Wiese des Festivalgeländes. Eine Wolkendecke liegt wenige Meter über der Bühne. Das Gelände ist umgeben von Gletschern, die aus dem Dunst hervorlugen. Es ist ruhig. So, als sei die Party over.

Weit gefehlt. Als die Moderatoren, in rote und blaue Wolltrachten gekleidet, die letzte Band ankündigen, als man dann die ersten Bässe hört, wimmelt es schlagartig von Leuten. Aufgedrehte Teenies strömen gen Bühne, fünf Minuten später tobt ein irrer Rave im lappischen Hinterland zu der Musik der kanadischen Band A Tribe Called Red.

Wasserfälle, Felsen, Wiesen

Barfuß-Bollerhosen-Ökos mit grauen langen Haaren hüpfen genauso wie Menschen in altertümlichen Trachten, Gäste aus Fernost in indigener Stoffkleidung zappeln nebst pickligen Dorfjugendlichen aus der Region. Gegen Ende tanzen alle im Kreis. Ein Reigen, eine Freakshow.

Diese Freakshow, die sich am Polarkreis, Breitengrad 69, zwischen Wasserfällen, Felsen und Wiesen zuträgt, nennt sich Riddu Riddu. Das Festival Riddu Riddu kennt hier, in der Kommune Kafjord, zweieinhalb Autostunden von Tromsø entfernt, jeder. Übersetzt heißt es so viel wie „Kleiner Sturm an der Küste“.

Ein großer Teil des Festivalprogramms besteht aus traditioneller Musik der Sámi – und dazwischen mischt sich eben angesagter Ethnopop von Bands wie A Tribe Called Red. Die Sámi – oder „Samen“ – kennt man hierzulande eher unter dem Namen Lappen („Rand“), sie selbst aber wollen nicht so genannt werden. Dem Volk der Sámi gehören in Norwegen, Finnland, Russland und Schweden nach Schätzungen zwischen 90.000 und 140.000 Menschen an. Zum Festival kommen in den vier Tagen vielleicht bis zu 3.000 Menschen, zum Teil reisen die Gäste aus Taiwan an, aus der Mongolei, aus Kolumbien.

„Viele, die mal hier gewohnt haben, kehren zum Festival einmal im Jahr zurück“, sagt Kamilla. Kamilla lebt und arbeitet inzwischen in Oslo, beim Festival ist sie eine der Volunteers. Sie ist hier aufgewachsen. Mit dem Land, mit den Leuten, mit dem Festival – das für die Sámi das Highlight des Sommers ist. „Eine Zeit lang habe ich mit meinen Eltern dort drüben gewohnt“, sagt die 34-Jährige. Sie zeigt auf eine vielleicht 500 Meter entfernte Häuserzeile – man sieht Holzhäuser, einige rotbraun, andere ockerfarben.

Die zierliche Frau mit rotem Sámi-Umhang aus Wolle, auf dem ein Sonnenzeichen abgebildet ist, blickt nachdenklich Richtung Bühne. „Aber immer, wenn ich wieder hier bin, denke ich: Das ist mein Zuhause. Der Norden Norwegens fühlt sich an wie ein anderes Land“, sagt sie. „Oder wie eine andere Welt.“

Da hat sie recht. „Aiaiooooo-aiaioooo-aiaiooooo-aiaiooooo“, hört man nun, am nächsten Tag, den in Schweden lebenden Musiker Jon Henrik Fjällgren zu Klavierbegleitung singen, genauer: joiken. Joik nennt man den traditionellen Gesang der Sámi-Bevölkerung, es klingt wie eine Mixtur aus Volksgesang, Summen, Operngesang und Jodeln. Meist enthält er kaum Text, nur Töne.

Das Joiken ist so etwas wie das kulturelle Erbe der Sámi in der Musik. Fjällgren hat mit dem Song „Daniels Joik“ die größte schwedische Talentshow gewonnen, der Titel wurde bei YouTube mehrere Millionen Male geklickt.

Später im Gespräch mit Anders Bongo, er ist Mitte sechzig und einer der älteren Joik-Stars der Sámi. Bongo trägt einen Wollanzug in Lila und Ockergelb, einen dicken Gürtel um die Hüfte. Er trägt eine Mütze auf dem Kopf, die an eine Narrenkappe erinnert. „Joiken war für Sámi lange verboten“, erzählt er, „man hat es immer mit Besoffensein gleichgesetzt. Dabei sind es Gesänge, die für gewisse Naturphänomene oder Personen komponiert werden. Es ist etwas Besonderes in der samischen Kultur, wenn du einen eigenen Joik hast.“ Die jüngere Generation entdecke nun das Joiken für sich, baue es in Pop- und Elektrosongs ein. „Sie entwickelt Stolz, das finde ich gut“, meint Bongo.

Joiken als Rebel Music sieht man auf dem Festival etwa von Maxida Märak, einem 26-jährigen Kraftbündel, das zwischen allen Songs politische Statements zur Exklusion der Sámi in ihrer schwedischen Heimat Jokkmokk vorträgt. Märak kämpft mit dem Gestus des Rap für „ihre Leute“, wie sie sie nennt. Märak, braune voluminöse Haare, riesengroße Ohrringe, vermengt die Joiks mit HipHop und Dance-Pop.

Märak hält die Sámi nach wie vor für randständig: „Es ist eine Art moderner Rassismus, den wir heute erleben“, sagt sie vor einem Song, „wir kennen diese Probleme alle. Und wir kennen alle jemanden im Bekanntenkreis, der Suizid begangen hat, weil er das nicht mehr aushält.“ Sie hält kämpferische Reden zwischen den Songs. „Wir haben mehr Rechte, als die meisten glauben. Es geht darum, dass wir unsere Rechte kennen. Dann werden wir diesen Kampf gewinnen.“

Lange waren die Sámi ein unterdrücktes Volk, ein bisschen wie die Sinti und Roma des Polarkreises. Kinder durften die Sámi-Sprache in der Schule nicht sprechen, man wollte sie an die Länder assimilieren. Mittlerweile – so sagen die meisten hier – hat sich ihre Situation verbessert. „Vor zwanzig Jahren schämte man sich dafür, Sámi zu sein. Ich wollte zu meiner Konfirmation schon ein samisches Kostüm haben, aber meine Eltern sagten nein. Inzwischen ist das anders“, sagt etwa Kamilla.

Kamilla steht nun in einem abgetrennten, erhöhten Bereich, in dem Alkohol verkauft wird. Hier quetschen sich derbe Männer mit puterroten Gesichtern neben pubertierende Jungs und Mädchen. Ein großer, schmaler Mann, höllebetrunken, will über die Absperrung aus Heu springen. Er verfängt sich in den Querstreben und steht sofort wieder auf. Als wäre nichts gewesen.

Von hier hat man einen Überblick über das Festivalgelände: eine große Bühne, komplett aus Holz und mit „Riddu Riddu“-Banner versehen. Viele „Lavvus“, also Zelte, sind aufgebaut. Neben der Bühne hängt die samische Flagge (seit 1986 haben die Sámi eine eigene Flagge).

Auf einer weiteren Wiese ist ein Markt aufgebaut. Da wird Handwerk-Nippes verkauft oder Rentier-Felle – der gewöhnungsbedürftigste Part des Festivals. Ein Hauch Mittelaltermarktatmosphäre, folkloristisches Zeug, mit dem ich wenig anfangen kann – und das dadurch nicht besser wird, dass es von einem kleinen, lange unterdrückten Völkchen stammt.

Auch die Camps der Festivalbesucher sind von hier aus zu sehen. Man erzählt sich, in den Jugendcamps gebe es beim Eintreten in die Partyzelte ein besonderes Ritual: In eine Pfütze Kaffee wird eine Münze hineingeworfen, der Kaffee wird aufgegossen mit 90-prozentigem Alkohol, bis die Münze in der Flüssigkeit wieder sichtbar wird. Dann muss man das Zeug nur noch trinken. Später sollte ich froh sein, dass ich auf diesen Feldversuch verzichtete.

Am zweiten Festivaltag lernt man in einem Sámi-Sprachkurs, wie man sagt, dass man einen Kaffee will (Mon sidan gáfe) – ohne das schwarze Gold geht bei den Sámi wenig bis gar nix. Und auch, wie man sich auf Samisch vorstellen kann (Mu namma lea). Die Sprache der Sámi ähnelt jener der Finnen, sie hat einen ähnlichen Sound, stammt aus der finno-ugrischen Sprachfamilie. Wichtig – zumindest noch in Erinnerung – ist auch, dass man nicht „ráhkis“ („Liebling“) mit „rahkis“ („geil“, „horny“) verwechselt.

Sonne, Sonne, Sonne

Der heimliche Star des Festivals ist auf jeden Fall die Umgebung. Die Sonne, die in diesen Breitengraden nie ganz untergeht und die die Nacht zum Tag macht (zwischen Mai und August, je nach Region, bleibt die Sonne 24 Stunden über dem Horizont sichtbar, bedingt durch die Stellung der Erdachse).

Der Fjord am Dorfzentrum, der von roten Holzhäuschen an der Küste gesäumt ist. Die Gletscher, die nun ein bisschen glasklares Wasser ins Tal spülen. Auch die Wetterumschwünge: Am ersten Tag ist es 30 Grad warm, eine Temperatur, die hier in der Arktis äußerst selten erreicht wird. Am nächsten Tag ist es 15 Grad kälter, und eine Wolkendecke liegt bleiern im Fjord. Von der Familie, bei der ich wohne, erfahre ich, dass es vor drei Wochen noch geschneit habe.

Mitte August gastiert das norwegische Riddu-Riddu-Festival für einen Tag in Deutschland, in Berlin. Dieses Setting wird es dann leider nicht mitbringen können. Dafür aber einige Sounds, die man so garantiert noch nicht gehört hat.