berliner szenen Essen für Frau Rütte

Immer satt werden

Am schlimmsten sind die Leute, die einfach nicht die Tür öffnen. Ich stehe dann davor und klingel. Das geht alles von meiner Zeit ab. Vor dieser Tür weiß ich, dass es lange dauern wird. Frau Rütte kommt mit ihren neunzig Jahren nicht so schnell die Treppe herunter. Ich stehe mit der Styroporschachtel in der Hand und warte. Frau Rütte bestellt immer unser billigstes Menü. Kartoffeln, Erbsen, Karotten.

Ich stelle die Styroporschachtel auf dem Küchentisch ab und öffne sie. Frau Rütte möchte nicht, dass ich das Essen auf einen Teller umfülle, weil sie sonst zu viel zum Spülen hat. Ich hole ihr eine Gabel aus der Schublade. So einen Service bekommen nicht alle unsere Kunden. Aber in Frau Rüttes Wohnung halte ich mich immer ein paar Minuten auf.

Jedem anderen Kunden würde ich die Schachtel an der Haustür in die Hand drücken und dann wieder fahren. Frau Rütte jedoch sitzt immer auf dem gleichen Platz am Tisch, mit Blick auf den Schrank. An den Schrank hat sie einen kopierten Zeitschriftenartikel geklebt. Sie muss irgendwann in einen Copyshop gegangen sein und diesen Bericht kopiert haben. Oder jemand anders muss ihn ihr gegeben haben. Der Artikel trägt eine dicke schwarze Überschrift: „Im Alter lauert der stille Hungertod“. Frau Rütte sieht während des Essens immer auf diesen Artikel. Ich habe sie schon einmal gefragt, ob ich das Blatt nicht abnehmen soll, jetzt, wo Meiners Menü ihr täglich das Essen serviert. Aber sie wollte nicht.

Zum Glück isst sie ihre Mahlzeiten auf. Das habe ich überprüft, der Mülleimer enthält keine Essensreste. Wenn ich mich von ihr verabschiede, streiche ich über ihren Arm und bin beruhigt, wenn er nicht dünner geworden ist. SANDRA NIERMEYER