: Rüttgers‘ Bürgermeister
VON KLAUS JANSEN
Es war 1979, eine Woche vor der Kommunalwahl, als sich Jürgen Rüttgers den Respekt von Karl August Morisse erwarb. Die Stadt Pulheim stand vor einer dramatischen Entscheidung: Kommt die Umgehungsstraße oder kommt sie nicht? Stadtdirektor Morisse war dafür, der junge CDU-Ratsherr Rüttgers auch. Viele Bürger indes waren dagegen. „Sie glauben gar nicht, wie viel Mut es braucht, so was zu so einem Zeitpunkt zu verkünden“, sagt Karl August Morisse. Der heute 65-jährige Mann sitzt in einem Restaurant in Pulheim. Er raucht Roth-Händle, viel stärker geht es nicht. „Dass Rüttgers fleißig war, wusste ich vorher. Dass er auch unpopuläre Entscheidungen treffen kann, war mir neu“, sagt er.
Karl August Morisse ist der Bürgermeister von Jürgen Rüttgers. Seit 32 Jahren ist er der Chef in Pulheim. Die Stadt zwischen Köln im Osten und dem großen Braunkohlerevier im Westen ist die Heimat des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten. Reiche Bürger, wenig Industrie, von 53.000 Menschen pendeln 14.000 zum Arbeiten nach Köln. Morisse war Pulheims Gemeindedirektor, dann erster Stadtdirektor, dann erster hauptamtlicher Bürgermeister. Gewählt als unabhängiger Kandidat, gegen Mitbewerber von CDU und SPD. Jürgen Rüttgers war von 1980 bis 1987 sein erster Beigeordneter. Ist Morisse sein Lehrmeister? „Wir telefonieren nicht“, sagt er. „Die Kontakte beschränken sich auf offizielle Anlässe.“ Er wägt seine Worte genau ab. „Persönlich hatten wir nur wenige Berührungspunkte.“
Morisse hat einen langen Vormittag hinter sich. Er beginnt mit einer Verwaltungskonferenz mit den Dezernenten und Amtsleitern, versammelt um einen U-förmigen Tisch im Erdgeschoss des Pulheimer Rathauses. Es geht um Linksabbiegerspuren, Abwasserkanäle, Bürgerversammlungen. Morisse sitzt mit dem Rücken zum Fenster, lässt sich Bebauungspläne kommen, er raucht. Schimpft im rheinischen Dialekt auf langsame Verwaltungen beim Kreis und im Land. „Wat‘ is‘ mit dem Gewerbegebiet Schwefelberg?“ Ein Beamter trägt vor, Morisse lehnt sich im Stuhl zurück. Es sind Feldhamster entdeckt worden. „Ein Fiasko, eine Katastrophe.“ 600 Arbeitsplätze hängen an dem Gelände. Vielleicht müssen die Hamster umgesiedelt werden. „Wie geht sowas?“ fragt Morisse. Er ist für pragmatische Lösungen. Man vertagt sich.
Jürgen Rüttgers hat mit Hilfe des Feldhamsters schon einen Wahlkampf gewonnen. Der Einsatz der Grünen für den Nager im Jahre 2005 wurde zum Symbol für deren angeblich industriefeindliche Politik. Morisse findet es in Ordnung, dass jetzt der Mann Ministerpräsident ist, mit dem er früher den Ortskern von Pulheim sanieren und mit rotem Pflaster verklinkern ließ. Morisse verteidigt die Sparpolitik der Landesregierung. Dafür ärgert er sich darüber, wenn Rüttgers den Bau einer neuen Buslinie verspricht, den die Stadt dann bezahlen muss. „Es gibt kein Buddy-Buddy-System zwischen uns und der Landesregierung“, sagt Morisse. Auf die Frage, ob er Rüttgers gewählt hat, gibt er keine Antwort.
Die Trennlinien in Pulheim sind nahezu unsichtbar. Der promovierte Jurist Morisse und der promovierte Jurist Rüttgers. Der Bürgermeister und der Aufsteiger. Das FDP-Mitglied und der Kirchgänger. „Rüttgers hat schon als Jugendlicher nur an Politik gedacht. Der hat nichts gemacht, was junge Leute so machen.“ Nicht geknutscht. Nicht getrunken. „Exzess war undenkbar.“
Natürlich ist Morisse stolz, dass Rüttgers Ministerpräsident ist und dass er immer noch im Ortsteil Brauweiler morgens seine Brötchen kauft. So viel Imagegewinn für die Stadt hat nicht einmal der Frauenfußballclub bringen können. Als prominenter Bürger kann vielleicht noch Henning Krautmacher durchgehen, Frontman der Kölsch-Kapelle „De Höhner“. Morisse mag es weltoffen. „Es tut weh, wenn Leute von außen kommen und sagen: ‚Das ist ja Provinz‘.“
Im vergangenen Jahr ist genau das passiert. Die Stadt hatte den spanischen Künstler Santiago Sierra eingeladen. Der wollte den Opfern des Holocaust dadurch gedenken, dass er Abgase aus sechs Autos in die Synagoge im Stadtteil Stommeln einleitete. „Wir wollten das Ritualhafte der Erinnerung aufbrechen“, sagt Morisse. Jüdische Organisationen fanden das geschmacklos, im deutschen Feuilleton wurden die Pulheimer als sensationsgierige Bauerntrampel zerrissen. Niemand schrieb darüber, dass in Pulheim vorher schon Arbeiten von Eduardo Chillida und Georg Baselitz über den Holocaust ausgestellt worden waren. Im nächsten Jahr soll es ein Symposium zum Thema geben. Morisse verteidigt die Aktion. „Ich konnte die Bedenken verstehen. Aber man kann ja nicht immer nur Karneval und Schützenfeste feiern. Wenn nur ein Fünftel der Bürger anspruchsvolle Kunst will, dann muss ich das bieten.“
Selbstverständlich würde Morisse nie sagen, Rüttgers sei für eine solche Aktion zu piefig. Er respektiert ihn als einen Mann, der „im Einklang mit sich und seinen Überzeugungen“ ist. Aber eben „katholisches Milieu“. Jemand, bei dem die Stadtverwaltung nicht nachprüfen muss, ob er seine Müllgebühren zahlt. Weil es „völlig undenkbar“ sei, dass er das nicht tut. Die Geschichten über einen Ministerpräsidenten, der in der Staatskanzlei herum brüllt und sich mit Mitarbeitern anlegt, hat er gelesen. Er kennt Rüttgers anders: „Ich habe bei ihm früher oft die Wut in den Augen gesehen. Aber er war immer beherrscht.“
Dass die Beziehung zwischen Chef und Untergebenem kompliziert war, bleibt unausgesprochen. Pulheim wurde durch die Kommunalreform von 1975 aus drei verschiedenen Gemeinden zusammengesetzt. Im Stadtrat saß neben Rüttgers für die CDU auch Bernhard Worms, der später bei der Wahl des NRW-Ministerpräsidenten Johannes Rau unterlag. „Aus jedem Ort kamen Alphatypen zusammen“, sagt Morisse. Er selbst zählt sich wohl auch dazu – sonst wäre er 1999 als Bürgermeisterkandidat gegen die großen Parteien angetreten. „Ich wollte meine Projekte weiterführen. Und ich wollte wissen, was das Volk von mir hält.“ Beim ersten Anlauf brauchte er noch eine Stichwahl. Vor zweieinhalb Jahren bekam er fast zwei Drittel der Stimmen.
Knapp 4.000 Hausbesuche hat Morisse im vergangenen Wahlkampf gemacht. Seine beiden Töchter haben mitgeholfen. Er schwört, dass er jeden Bürgerbrief persönlich beantwortet. Kommunalpolitiker sind für ihn die besseren Politiker. „Der Bürger ist hellwach, der merkt sofort, was passiert. Da darf man sich keine Sekunde vertun“, sagt er. Und trotzdem müssten manchmal auch unpopuläre Dinge beschlossen werden. Morisse ist mit sich im Reinen.
Vielleicht war in Pulheim irgendwann einfach kein Platz mehr für ihn und Rüttgers. Vielleicht nimmt Morisse es dem Ministerpräsidenten übel, dass der seine Beliebtheit, seine Unabhängigkeit, seinen Erfolg in Pulheim nicht richtig gewürdigt hat. Da ist diese Sache mit der Gemeindeordnung: Die Landesregierung will die Stichwahl in den Kommunen abschaffen, die Chancen für Einzelbewerber wären gering. „So einer wie ich wäre dann gar nicht mehr möglich“, sagt Morisse.
Dann erzählt er von einem Treffen im Pulheimer Wahlkampf. Morisses Helfer haben einen Wagen vor der Kirche in Brauweiler aufgebaut, um „für den lieben Karl August zu argumentieren“. Rüttgers tritt aus dem Gotteshaus, geht auf seinen früheren Chef zu und sagt: „Ach Karl August, ich weiß, du musst das jetzt machen. Auch wenn es nichts bringt.“ Rüttgers glaubte an einen Sieg des CDU-Kandidaten. Karl August Morisse schüttelt den Kopf und sagt: „Er hat es einfach nicht begriffen.“