: Reisender ohne Heimat
PANTER KANDIDATINNEN V Seit 28 Jahren lebt Richard Brox auf der Straße. Obdachlos wurde er zum Aktivisten, der anderen hilft, sich zurechtzufinden
■ ist 50 Jahre alt und lebt seit 28 Jahren als Obdachloser auf der Straße. Seit 2006 engagiert er sich für die Belange von Menschen ohne festen Wohnsitz. Auf seinen Internetseiten kurpfaelzer-wandersmann.de und ohnewohnung-wasnun.de hält er seine Erfahrungen fest und stellt anderen Obdachlosen wertvolle Informationen zur Verfügung.
VON GINA BUCHER
Wir treffen uns mittags am Infopoint der Deutschen Bahn im Hauptbahnhof von Köln, denn Helmut Richard Brox hat kein Zuhause. „Wenn man obdachlos ist“, sagt der große blonde, knapp fünfzigjährige Mann in Jeans mit sympathischem Mannheimer Dialekt, „stehst du draußen.“ Das meint er ganz grundsätzlich: Obdachlos bedeutet nicht nur, über kein Bett, Schrank und keine Dusche zu verfügen.
Obdachlos bedeutet in der Regel auch, keine Meldeadresse zu haben. Im Personalausweis steht dann gestempelt: ohne festen Wohnsitz. Und ohne diesen, erklärt Richard Brox, bekomme man in vielen Städten auch keine Tagessätze nach Hart IV. Ohne festen Wohnsitz ist man für viele Belange im alltäglichen Leben schlicht nicht existent.
Wir gehen zum Treffpunkt des Sozialdienstes Katholischer Männer (SKM) gleich links neben dem Bahnhof. Dort sitzen viele andere, mehr Männer als Frauen, ohne festen Wohnsitz. Nicht allen sieht man diesen Status an. Ein älterer Herr in adrettem Blazer und Chapeau sitzt hinter einer FAZ. Eine junge blonde Frau fragt nach Internet, die drei Männer am Nebentisch bekommen von der Sozialarbeiterin Stullen und Bananen und laden noch schnell ihre Handys auf, denn gleich um 15 Uhr schließt der Treffpunkt.
Deutschlandweit gibt es etwa 2.000 Soziale Dienste und Einrichtungen für wohnungslose Menschen. Richard Brox kennt sie fast alle. In über 20 Jahren Straßenleben hat er jene Adressen unter anderem auf der Homepage ohnewohnung-wasnun.de zusammengetragen, die Wohnungslosen und Suchtkranken hilft, eine sichere Übernachtung und weitere Soforthilfe zu finden. Die Einträge sind knapp gefasst, indirekt von Brox bewertet nach Hygiene, Umgangston der Sozialarbeiter und tatsächlicher Hilfsbereitschaft. Adresse und Öffnungszeiten sind aufgeführt, dazu ein Kommentar wie etwa: „Beratung, Vermittlung, Tagesaufenthalt, geringe einmalige Beihilfen wie Fahrkarten etc.“
Gelistet werden nur Adressen, die er guten Gewissens empfehlen kann. „Die Webseiten sind für Wohnungslose und Suchtkranke eine Art Anker und Lebensverlängerung. Ich betreue sie, um zu verhindern, dass sich Menschen wertlos fühlen.“ Die Hilfe zur Selbsthilfe ist ihm wichtig, und nochmals betont er: „Denn wenn du obdachlos bist, dann stehst du nicht nur draußen – du bist es auch.“
Ein Absturz ins Bodenlose
Der gebürtige Mannheimer weiß, wovon er spricht, schließlich ist er seit seiner Zwangsräumung vor 28 Jahren selbst obdachlos. Viele Wohnungslose haben eine ähnliche Geschichte wie er: Schuld an der Zwangsräumung waren die Drogen, schuld an den Drogen die Jugend, die ihm ein Erzieher durch sexuellen Missbrauch genommen hat. Die Ungerechtigkeit, dass er bestraft wurde, weil er sich damals wehrte, nagt bis heute an ihm.
Schuld an der Jugend in diversen Kinderheimen war die Kindheit bei den Eltern, die als KZ-Überlebende traumatisiert waren und sich selbst nicht zu helfen wussten. Ein Zirkel des Bösen eben, meint Brox achselzuckend und erzählt im gleichen Atemzug von gescheiterten Managern: Auf der Straße, das kann er bestätigen, sind alle Schichten vertreten.
Ins Netz und zu seinen insgesamt drei Internetseiten kam er per Zufall. Im November 1999 suchte er durchnässt in Berlin einen trockenen Ort, weil die Notschlafstelle in der Franklinstraße erst abends öffnen würde. Günstigste und trockenste Option war ein Internetcafé, wo ihm der Mann hinter dem Tresen einen Computer zuwies und er ganz hinten bei der Heizung einen Typ vom Chaos Computer Club kennenlernte. Drei Stunden später hatte Brox eine E-Mail-Adresse und eine Standard-Webseite, kurpfaelzer-wandersmann.de, auf der er fortan eine Art Tagebuch führte.
Viel später erst realisierte er, dass die Webseite öffentlich ist und seine Einträge auch tatsächlich gelesen werden. Als er aber schließlich einmal in Gotha, Thüringen, nach einer Notschlafstelle suchte und nur Webseiten für Sozialarbeiter, nicht aber solche für Menschen wie ihn fand, merkte er, dass das Internet doch ein ziemlich luftleerer Raum ist: „Und da wusste ich: Hier musst du etwas tun.“
Warum er die Adressen, die in der Szene oft als Geheimtipps gelten, teilt, hat einen simplen Grund: „Geben macht glücklich.“ Abgesehen davon, dass er 2009 nachts auf der Straße im Schlaf von Fremden halbtot geschlagen wurde und seither bleibende Schäden an der Wirbelsäule hat, habe er immer viel Glück gehabt, erzählt er. Viele Leute haben ihm stets geholfen. Jetzt will er etwas zurückgeben. Er, der sich selbst als „Reisender ohne Heimat“ beschreibt, hat damit seine Aufgabe gefunden.
Hätte Richard Brox in seinem Leben mehr Chancen bekommen, er wäre vermutlich eher Sozialarbeiter geworden. Aus seinen Erfahrungen spricht viel Pragmatismus und Menschlichkeit. Wie ein Politiker kann er druckreife Sätze ins Mikrofon diktieren: „Jeder braucht eine Chance, manche brauchen auch eine zweite.“ Und er redet sich in Rage, wenn es um Hartz IV geht: Fordern, um zu fördern sei Quatsch, sagt er.
■ Nominierte: Sechs KandidatInnen hat unsere Jury für den Panter Preis 2014 vorausgewählt. Es ist ein Preis für Einzelpersonen und Initiativen, die sich mit starkem persönlichem Einsatz für andere engagieren und mutig Missstände aufdecken.
■ Preis: Jedes Jahr werden zwei mit je 5.000 Euro dotierte Preise verliehen. Den ersten vergibt eine taz-Jury mit prominenter Hilfe, den LeserInnenpreis vergeben Sie.
■ Porträts: Bis Ende Juli stellen wir hier in der sonntaz jede Woche einE KandidatIn vor. Rena Tangens (Mitte) und ihre Mitstreiterinnen von Digitalcourage waren der vierte KandidatInnenvorschlag in der vorigen Woche. Ab 2. August können Sie Ihre FavoritIn wählen: per Mail, per Post oder auf der Internetseite www.taz.de/panter.
■ Verleihung: 13. September unter der Schirmmenschschaft der taz Panter Stiftung im Deutschen Theater Berlin.
■ Solidarität: Unterstützen Sie unsere Arbeit und spenden Sie unter dem Stichwort: „taz Panter Preis“ (taz Panter Stiftung, GLS-Bank Bochum, BIC GENODEM1GLS, IBAN DE 974 306 096 711 037 159 00). Die taz Panter Stiftung ist gemeinnützig, Spenden können steuerlich abgesetzt werden.
Viel wichtiger sei es, Integration durch Augenhöhe zu gewährleisten, jetzt, heute, hier – praktisch statt theoretisch. Die Einführung von Hartz IV, sagt er, hätte die Gesellschaft kälter gemacht, gerade auch die Solidarität unter den Obdachlosen leide darunter. Seit er die Webseiten 2006 lancierte, hat sich in seinem Leben einiges bewegt: Regelmäßig sitzt er als Obdachloser in Talkshows und Diskussionsrunden – und als Berater in Facheinrichtungen.
Schach mit Günter Wallraff
Mit der Rolle des Lobbyisten und Aktivisten für Obdachlose und Suchtkranke hat er keine Mühe: „Warum nicht den Quotenobdachlosen spielen, wenn es der Sache dient?“ Die anderen Diskussionsgäste, meistens Politiker, geraten bei ihm verlässlich in Verlegenheit, weil er pointiert und klug vom Leben auf der Straße berichten kann.
2008 lernte er Günter Wallraff kennen, zusammen drehten sie den Dokumentarfilm „Unter Null – Obdachlos durch den Winter“ über die Obdachlosenszene. Seither sind sie befreundet und spielen gemeinsam Schach, Brox wohnte zeitweise auch bei ihm.
Durch die Auftritte bekommt er gut gemeinte Angebote, hat mittlerweile in vielen Städten Freunde, bei denen er auch übernachten könnte. Hilfe, die er sehr zu schätzen weiß – doch sein großer Traum ist weitaus schwieriger zu erfüllen: „Ich will das alles aus eigener Kraft schaffen, das ist wichtig, verstehen Sie?“