: Blätter, die die linke Welt bedeuten
Schriften zu Zeitschriften: Die „Blätter für deutsche und internationale Politik“ – 50 Jahre Sorgen um Deutschland
Es gibt sie noch, die linken Dinge: Mit der November-Ausgabe feiern die Blätter für deutsche und internationale Politik ihren 50. Geburtstag. Monat für Monat befriedigt dieser Katalog für Gesellschaftskritik die anspruchsvollen Bedürfnisse einer politikhungrigen Kundschaft. Und Generationen von Politologie-Studenten haben die Blätter-Beiträge durchgeackert, um in Seminaren argumentativ gerüstet die jeweils herrschenden Machtverhältnisse zu entlarven. Auch Philipp Köster, Chefredakteur des Magazins für Fußball-Kultur 11 Freunde, ist einst als Praktikant durch die harte Schule der Blätter gegangen.
Zu den Vorzügen der Zeitschrift gehört ein sympathischer Anachronismus. Denn was wäre heute unzeitgemäßer als die solide Wertarbeit langer Aufsätze, die vom Leser Zeit und Konzentration verlangen? Am Anfang war das Wort und eben nicht das Bild: In der konsequent altmodischen Anmutung der Blätter ohne optische Ablenkungen liegt ihr eigentümlicher Reiz. Dieser Charme trendresistenter Textmassen verstärkt sich beim Blick auf die gänzlich andersgeartete Konkurrenz.
Die erste Ausgabe von polar, dem Halbjahresmagazin einer zwischen Vernissagen und Theaterprojekten pendelnden Lifestyle-Linken, servierte jüngst nach langer Vorbereitung fade schmeckende Theoriehäppchen und wollte programmatisch zum Uncoolsein anstiften. „Das waren wir schon immer“: so könnten die Blätter-Veteranen cool entgegnen. Und auf dem November-Titel des liberalkonservativen Cicero prangt ein peinliches „Vergesst Habermas!“; umstandslos wird da vom Ende der politischen Philosophie schwadroniert und nach verschluckten Jugendbriefen gefahndet. Noch im April hatte Cicero in einem obskuren Intellektuellen-Ranking dem Philosophen immerhin den sechsten Platz zugewiesen.
Jürgen Habermas, Mitherausgeber der Blätter, veröffentlichte in deren Mai-Heft eine Rede, die er anlässlich der Entgegennahme des Bruno-Kreisky-Preises gehalten hatte: sein Vermächtnis als engagierter deutscher Denker. Zu den Tugenden des politischen Intellektuellen gehörten, so Habermas, „ängstliche Antizipation von Gefahren“ und „argwöhnische Sensibilität“. Ganz ähnlich klang das im ersten Editorial der Blätter vom November 1956. Unter der Überschrift „Aus Sorge um Deutschland“ war damals vom „Bewußtsein drohenden Unheils“ die Rede, das auf den Völkern der Erde laste; daher spürten viele die Verpflichtung, „an der Lösung der großen Menschheitsfragen tätig teilzunehmen“. Kritisches Engagement braucht offenbar normativen Überschuss und eine Portion Alarmismus.
Im Jubiläumsheft fällt der Rückblick auf die eigene Vergangenheit leider zu knapp aus. Mehr „Aufklärung statt Abklärung“ (so die Eigenwerbung) wäre hier angesichts der linksdogmatischen Irrwege der Blätter in den Siebziger- und Achtzigerjahren nötig gewesen. Nach 1989 hat sich die Zeitschrift freigeschwommen und zog Ende 2003 von Bonn nach Berlin, mittlerweile erfolgreich produziert von den drei jungen Redakteuren Albrecht von Lucke, Annett Mängel und Albert Scharenberg. Sie präsentieren im Jubiläumsheft eine typische Blätter-Mischung aus sachkundigen Analysen und kräftigen Attacken, die globale Lage stets im Blick. Franz Ansprenger, bald 80-jähriger Nestor der deutschen Dritte-Welt-Forschung, bündelt die Nöte Afrikas und verweigert sich dennoch hoffend jedem Afro-Pessimismus – klare und kluge Worte. Sein Altersgenosse Erhard Eppler, der letzte theoretische Kopf der SPD, beantwortet einmal mehr die ewige Frage, was heute links ist: der Kampf gegen die Ökonomisierung des Bewusstseins und die europaweite Revitalisierung des Staates.
Am 24. November wird der Geburtstag in der Berliner Kulturbrauerei öffentlich gefeiert. Der Sound des Sachzwangs, den der Globalisierungsreader mit Blätter-Texten der vergangenen Jahre lautstark beklagt (u. a. von Noam Chomsky, Naomi Klein, Saskia Sassen, 270 S., 12 €), dürfte dann von Partyklängen übertönt werden. Auf die kritische Ausdauer und die politische Leidenschaft der Blätter kann die Berliner Republik auch die nächsten 50 Jahre nicht verzichten.
ALEXANDER CAMMANN
„Blätter für deutsche und internationale Politik“, Nr. 11/2006, 8,50 €, www.blaetter.de