Dem inneren Stern folgen

Er geht zwar oft verloren, das aber mit großer Präzision: Lajos Talamonti ist ein Performer und Regisseur, der über Umwege zur eigenen Form des Theaters gefunden hat – und die handeln oft von den verschlungenen Wegen der Erkenntnis. Ein Porträt

VON CHRISTINE WAHL

„Ist es nicht interessant, dass es für Menschen mit geringen finanziellen Mitteln nur unattraktive Textilien gibt? Müssen wir nicht feststellen, dass das, was früher die natürliche Selektion geleistet hat, wir heute durch Mode imitieren?“ Diese dringend klärungsbedürftigen Fragen, an denen ein Forscher-Quintett in Lajos Talamontis Performance „Superposition. Eine Wissensgesellschaft“ herumgründelt, bildet eine bisher unbekannte Abteilung der jüngsten Evolutionsbiologie. Sattelfest sind Talamonti und seine Truppe Ersatzverkehr/Urban Lies aber auch in puncto Vogelgrippe, Funktionsweise des gemeinen Backofens sowie plastische Chirurgie: Mit ihrem Eingriff in eine Apfelsinenschale zum Zwecke der Fettabsaugung könnten sie jedenfalls jeder Charlottenburger Körperoptimierungspraxis locker Konkurrenz machen.

Den Abend der fröhlichen Wissenschaft darf man sich im Großen und Ganzen getrost so vorstellen wie den Regisseur selbst, der bei einer Apfelschorle im Mitte-Café am Weinberg sitzt: Talamonti ist ein witziger Unterhalter, der nur einen Halbsatz braucht, um beispielsweise von Peter Sloterdijk oder der „für die Moderne konstitutiven Melancholie“ zur höchst gegenständlichen Friedrichshain-Depression zu kommen. Der Interviews nicht mit Werbeterminen verwechselt und zwanglos persönlich sein kann. Wahrscheinlich hätte man die zwei Interview-Stunden schon allein mit der Debatte über jene Grundfrage bestreiten können, die Talamonti zu „Superposition“ inspirierte: „Wie kann man sich in der Moderne beheimatet wissen, wenn man den Großteil der Dinge, die einen umgeben, einfach nicht versteht?“

Dass diese Frage selten so amüsant und gleichzeitig schlau beantwortet wird wie in „Superposition“, wo man Komik in keiner Sekunde mit plattem Akademiker-Bashing oder Zynismus verwechselt, ist auch den stilsicheren Betreibern des Kinder- und Jugendtheaters an der Parkaue aufgefallen: Dort gastiert Talamontis Produktion jetzt für Teenies ab fünfzehn. „Anbiederungsversuche“ bei der Jugend sind nicht zu befürchten: Das wichtigste Novum gegenüber dem Auftritt in den Sophiensælen besteht darin, dass Talamonti diesmal selbst mitspielt. Die Doppelrolle als Regisseur und Akteur hatte er sich wegen des immensen Arbeitsaufwandes ursprünglich „nicht zugetraut“.

Dabei kennt man Talamonti als begnadeten Performer: Wer es gesehen hat, vergisst nicht, wie er in „lili in putgarden“ – einem Beitrag von Nico and the Navigators zur Macht des gemeinen Gebrauchsgegenstandes über seinen Benutzer – beim Kampf gegen eine riesige rote Wärmflasche um einen gefassten Gesichtsausdruck rang. Oder wie er – ganz anders, nämlich geradezu minimalistisch – in Hans-Werner Kroesingers jüngster Dokumentarinszenierung „History Tilt“ im HAU über den Völkermord an den Armeniern aufklärte. Noch in der größten Reduktion besticht Talamonti durch bewegungstechnische Vollendung, die allerdings eher an die Verlangsamung bei Marthaler als das Virtuosentum des Balletts denken lässt.

Insofern hätte man nicht vermutet, dass der gebürtige Münchner – Jahrgang 1969 – an der dortigen Heinz-Bosl-Stiftung neun Jahre klassisches Ballett studierte und später am renommierten Scapino-Ballett in Amsterdam engagiert war. Allerdings nicht lange: Infolge einer Salmonellenvergiftung wurde Talamonti rheumakrank und lag ein knappes Jahr im Bett: Eine „niederschmetternde“, existenziell einschneidende Erfahrung. Auch wenn er heute lachend kommentiert: „Man soll eben seinem inneren Stern folgen. Ich durfte ja dann zur Belohnung meinen Beruf aufgeben.“

Eine Neigung weg vom disziplinierten Ballett hin zur „Happening-angehauchten Performance in der heimischen Garage“ habe er schließlich schon als Kind gespürt. Aber den Ausschlag gab erst die Krankheit. Dafür lesen sich die folgenden Stationen wie das Drehbuch zu einer Hauptstadt-Telenovela: Talamonti zog nach Berlin, begann im Roten Salon der Volksbühne zu kellnern und stieg bald zum Gast-Regieassistenten auf. Später wurde er Leiter des Theaters im Tacheles, schaute sich mit Feuereifer durch sämtliche Bewerbungsvideos freier Gruppen.

Seit 1999 ist er selbst als Regisseur in dieser Szene unterwegs. Und ob bei seiner wunderbaren theatralen Busrundfahrt „Ersatzverkehr“, die über Stadtplanung und Geschichte mit surrealen Mitteln aufklärt, oder eben bei „Superposition“: Talamonti verkörpert auf eine ganz unaufgeregte Art und Weise das, was man gern pathetisch als den großen Suchenden bezeichnet: „Es geht immer um eine gewisse Topografie, um die Verlorenheit in einem Terrain – auch einem psychischen –, wo man sich zurechtfinden, ein Orientierungsmuster suchen muss.“ Und Talamonti gehört zu denen, denen man dabei gern zuschaut.

„Superposition. Eine Wissensgesellschaft“: Theater an der Parkaue, 8.–10. & 13. 11., 19 Uhr