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Archiv-Artikel

Frankreich und die Furien des Faschismus

Der US-Schriftsteller Jonathan Littell, 39, begeistert in Frankreich Kritik wie Publikum mit „Les Bienveillantes“, den Memoiren eines fiktiven SS-Offiziers

aus PARIS DOROTHEA HAHN

Die Deutschen haben Günter Grass. Die Franzosen machen sich Angst mit Max Aue. Beide ehemaligen SS-Männer bestimmen die literarische Aktualität. Doch während sich der reale Grass schamhaft bedeckt hält, beschreibt der fiktive Max Aue en détail wie er über die Leiber von Sterbenden in Massengräbern balanciert, wie er „Gnadenschüsse“ setzt und was das in ihm persönlich auslöst. Auf den ersten Seiten seiner Memoiren stellt er als alt und reich gewordener, in Frankreich lebender, Industrieller 61 Jahre nach Kriegsende klar: „Ich bedauere nichts. Ich habe meine Arbeit erledigt. Das ist alles.“

Die Franzosen verschlingen den in der ersten Person geschriebenen Bericht. Der Text ist hart. Oft jenseits der Schmerzgrenze. Er trieft vor Blut und Hirn. Vor Scheiße, Sperma und anderen Spuren von Gewalt. Und er ist einfühlsam auf der Seite des Täters. Wenn der SS-Mann russische Dörfer nach Juden durchkämmt, erfahren die Leser, wie anstrengend das für ihn ist. Als er in einer Kirche einen alten Organisten ermordet, der ein Stück von Bach spielt, erklärt er seine eigene Geste mit einer Laune. Während uniformierte Männer eine wimmernde nackte Frau durch die Straßen einer Stadt in Galizien hetzen, nimmt der SS-Mann das vom Kneipentisch aus mit gelangweilter Gleichgültigkeit zur Kenntnis.

Der Roman „Les Bienveillantes“ – die französische Bezeichnung für die Furien in der griechischen Mythologie – ist ein Perspektivenwechsel. Die Opfer der NS-Verbrechen schrumpfen darin zur Kulisse. Die Hauptperson, auf die sich alle Beschreibungen konzentrieren, ist der Henker.

Er allein hat Gefühle. Er hat eine Geschichte vor dem Krieg. Und er hat ein Leben danach. Auf 903 Seiten – Auflistung der SS-Dienstgrade inklusive – können die Leser in die Haut dieses Henkers Max Aue schlüpfen. Neben ihm bleiben alle Figuren im Roman so farb- und konturlos wie Statisten. Blass bleiben auch die zahlreichen NS-Größen, die der fiktive Max Aue unterwegs trifft – von Eichmann über Hess bis zu Hitler.

In den Buchläden zwischen Paris, Marseille und Ajaccio geht der 1,15 Kilogramm schwere, 4,5 Zentimeter dicke Roman weg wie warme Semmeln. „Ich will wissen, was in einem Menschen vorgeht, der das absolut Böse tut“, erklärt eine 42-jährige Mutter. „Die SS macht einfach irre Angst“, begründet eine 30-Jährige ihr Interesse. Und fügt hinzu, dass sie nicht nach historischer Authentizität sucht: „Das ist ein Roman. Eine Fiktion.“ Ein Lehrer meint: „Der Verlag und die Kritik haben so effizient die Werbetrommel gerührt, dass man an dem Buch nicht vorbeikommt.“ Und ein Historiker ist überzeugt: „Ein großer Roman kann helfen, die Geschichte zu verstehen.“

Buchautor Jonathan Littell war bis zum vergangenen August ein total Unbekannter im Literaturgeschäft. Sein einziger vorhergegangener – vor 17 Jahren auf Englisch verfasster – Roman verhallte spurlos. Seit dem Erscheinen von „Les Bienveillantes“ haben ihn die Kritiker der einschlägigen Pariser Blätter in den Literaturhimmel katapultiert. Sie bewundern seinen Mut, sich auf die Seite eines Henkers zu stellen. Rätseln darüber, warum ein „so junger Mann“ sein erstes Buch ausgerechnet über dieses Thema schreibt. Loben seine aufwendige Recherche an den Schauplätzen des Krieges und seine Kenntnis des Organigramms von SS- und NS-Regime. Und zeigen sich entzückt von den Sprachkenntnissen des in New York geborenen US-Amerikaners, der auf Französisch geschrieben hat. Manche Kritiker gehen so weit, Littells Schreibstil mit dem von Tolstoi und Pasternak zu vergleichen. Der spanische Schriftsteller und frühere Widerstandskämpfer Jorge Semprún begrüßt das „literarische Ereignis des 21. Jahrhunderts“. Und die Zeitung Le Monde hat ein „fundamentales Werk“ entdeckt.

Der 39-jährige Autor hält sich mit Auftritten zurück. Redet bei Interviews so kurz angebunden wie jemand, der nicht mit Worten umgehen kann. Und lässt die meisten Fragen offen. Littell ist in New York in einer jüdischen Familie geboren, deren Vorfahren im 19. Jahrhundert aus Polen in die USA emigriert sind. Er ist in Frankreich aufgewachsen. Und er lebt heute mit Frau und Kindern in Barcelona. Bevor er mit seiner fünfjährigen Arbeit an „Les Bienveillantes“ anfing, war er jahrelang in „humanitären Missionen“ an Orten tätig, wo die Katastrophe Alltag ist. Darunter Tschetschenien und Afghanistan. Sein Vater, Robert Littell, ist ein bekannter Journalist und Autor politischer Bücher.

Entgegen den Vermutungen der Pariser Kritik versichert Jonathan Littell, dass seine jüdische Familie nichts mit seiner Themenwahl zu tun habe: „Bei uns spielte der Vietnamkrieg eine größere Rolle als die Schoah. Als Kind hatte ich Angst, dass ich später nach Vietnam müsste.“

Auf den Zweiten Weltkrieg kam er erst als Erwachsener. Zunächst durch Bilder. Ihn inspirierte das Foto einer von den Deutschen gefolterten und gehenkten Russin, die noch im Tod „schön“ gewesen sei. Und – vor allem – der Film „Shoah“.

Gegenüber einer frankokanadischen Journalistin erklärt Littell nonchalant, der Zweite Weltkrieg sei „eine ziemlich zentrale Periode der Geschichte“. Einen Henker als Hauptperson habe er gewählt, weil er diese Figur „verstehen“ wolle. Littell: „Nur die Opfer reden. Die Henker sagen nichts. Sie schweigen.“ Seine eigene Schreibsprache begründet Littell, der seine Kindheit und Jugend in Frankreich verbracht hat und akzentfrei Französisch redet, so: „Ich liebe die französische Sprache.“

Historische Bücher fallen in Frankreich grundsätzlich auf fruchtbaren Boden. Offenbar ist jetzt die Zeit auch reif für eine Umkehr bei der Schoah- Beschreibung. Von der Geschichtsforschung zur literarischen Produktion. Von der Opferperspektive hin zu der Perspektive eines Täters und Mörders im Dienste der SS. Und von der Verurteilung der Verbrechen zu ihrer vermeintlich neutralen Beschreibung. Manche Leser legen das Buch auch deswegen nach ein paar hundert Seiten enttäuscht, oder sogar angewidert, zur Seite. Statt neuer Erkenntnisse liefert es ihnen genüssliche Beschreibungen von Verbrechen und Blut.

Doch was die große Masse der Buchkäufer und Leser betrifft, liegt Littell voll im Trend: Nicht nur bei der Themen- und Sprachwahl, sondern auch bei seinem kommerziellen Vorgehen. Er machte es auf eine Art, die in Frankreich völlig neu ist und auch Neider auf den Plan ruft: Er engagierte einen Agenten in London. Der reichte sein – damals noch über 1.000 Seiten dickes – Manuskript, versehen mit dem französischen Pseudonym „Jean Petit“, bei verschiedenen Pariser Verlagen ein. Und handelte – bei Gallimard und bei der Frankfurter Buchmesse beim Verkauf der Übersetzungsrechte an deutsche, italienische und US-amerikanische Verlage – Verträge aus, die Littell mehr Rechte und Tantiemen gewähren, als jedem anderen französischen Autor. Gallimard seinerseits ließ wohldosiert kleine Informationen in die Medien tröpfeln, die das Buch in der öffentlichen Debatte hielten. Schon als die Startauflage nach wenigen Tagen ausverkauft war, veröffentlichte der Verlag, dass er für den Neudruck von den Memoiren des SS-Mannes das eigentlich für das Kinderbuch „Harry Potter“ gedachte Papier verwenden müsse.

Ende Oktober legte die Zeitung Le Monde eine erste Bilanz vor. Littell, so schrieb Le Monde, habe mit seinem Roman bereits rund 1,75 Millionen Euro verdient. Ein Rekord.

Der Verkaufserfolg von „Les Bienveillantes“ übertrifft selbst Buchhits wie die von Michel Houellebecq. Und ließ wochenlang auch die wenigen kritischen Stimmen zu „Les Bienveillantes“ verstummen. Unter den Schwergewichten in Frankreich brachte lediglich Claude Lanzmann, der Autor des Films „Shoa“, einige kritische Töne in die Debatte.

Lanzmann nennt den fiktiven SS-Mann Max Aue einen „Bauchredner der Geschichtsbücher“ und hält es für „unnötige Fiktion“, dass Littell versucht hat, seine Hauptperson „mit Kotzen, Durchfall, sexueller Perversion und metaphysischen Überlegungen glaubwürdig zu machen“.

Eine andere kritische Anmerkung zu dem SS-Roman kommt von einem Historiker aus Berlin. Peter Schöttler, der für den französischen Forschungsrat CNRS arbeitet, stellt fest, dass Littell einen „abstrakten Bezug zur deutschen Sprache und Kultur“ hat: „Ohne die pornografischen Aspekte erinnert das Buch an Hollywood-Filme“, schreibt der Historiker in Le Monde: „Nazi-Uniformen in Studiokulissen.“