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Archiv-Artikel

SEXBOMBE IM KINDERZIMMER

Halb Kind, halb Tunte. Halb Mensch, halb Maschine. Und doch ein Mann mit Eiern: Katerine, Frankreichs großer Pop-Dandy, hat ein gewagtes Album aufgenommen. Jetzt erscheint es auch in Deutschland

von REINHARD KRAUSE

Am Abend, beim Konzert, trägt Monsieur einen schwarzen Kasack und sehr großmaschige feine Netzstrümpfe, das mittellange goldige Haar, allerdings schon etwas schütter, mit einem Klämmerchen gebändigt. Dadurch sieht er aus wie eine Underground-Shirley-Temple. Und dazu dieser Gesang: halb treuherziges Kind, halb ausgebuffte Tunte. Auf den ersten, den zweiten, ja selbst den zehnten Blick ist der Fall klar: Dieser Herr möchte doch gar kein Herr sein. Die Frage ist nur: Was denn dann? Ein David Bowie schmückte sich zu Beginn seiner Karriere mit den schillernden Federn einer behaupteten Bisexualität, Katerine hingegen entdeckt die ganz große Freiheit, die in der Mauser liegt. Glamour ohne Glanz. Toll!

Zum Interview allerdings trägt Frankreichs kuriosester Dandy einen Chic, wie er auch in Prenzlauer Berg nicht auffiele: grasgrüne Hose, ein Hemd mit einem Muster wie aus der Tapetenproduktion der Siebziger und dazu schwarze Slipper. Monsieur Katerine, was ist Ihre Schuhgröße? „Meine Schuhgröße?“ Seine Augenbrauen schnellen in die Höhe. Er zögert, die Frage irritiert ihn. „Meine Schuhgröße, nun gut. 42.“ Aha, 42, vielleicht liegt es ja daran. Auf den Coverfotos zu seinem aktuellen Album, einer wilden Mischung aus Discohysterie und tausenderlei Kauzigkeiten, trägt der Sänger nämlich zu superknapper fliederfarbener Leibwäsche hochhackige Silbersandalen, die viel zu klein sind und wohl deshalb vorne kein Riemchen haben. Schuhe zum Stolpern, Schuhe zum Hinfallen.

Hier in Deutschland wäre es nicht so schwer gewesen, passende Frauenschuhe zu finden. „In Frankreich auch nicht!“, kontert Katerine. „Aber mir gefiel die Idee, dass die Menschen auf dem Foto alle an einem Handikap leiden. Wenn man in diesen Schuhen herumläuft, fühlt man sich nicht nur unwohl, es ist sogar richtig gefährlich.“ Aber warum das Ganze? „Ich finde Behinderungen spannend. Wenn dich etwas behindert, musst du nach Wegen suchen, diese Schwierigkeit auszugleichen. Wer solche Schuhe trägt, muss sich anders bewegen. So entsteht aus einer Behinderung etwas Interessantes. Wir tragen diese Schuhe übrigens auch auf der Bühne.“ Kann man in denen denn überhaupt tanzen? „Oh nein“, sagt Katerine, jetzt lacht er fröhlich. „Das ist sogar strikt verboten!“ Zu den rasenden Euroclash-Klängen stillzuhalten dürfte allerdings ähnlich schwerfallen, wie in diesen Schuhen zu tanzen.

Bislang war Katerine – im bürgerlichen Leben Philippe Katerine – vor allem durch poppige Konzeptalben zwischen Chanson, Bossa Nova und schnurrigen Musikexperimenten aufgefallen. Doch diesmal sollte alles ein bisschen lauter werden, auch maschineller, fremdbestimmter. Die Produktion übernahmen die geradezu notorischen Gonzales und Renaud Letang. Und siehe da: Plötzlich verkauft der Exzentriker aus der Vendée so viele Platten wie nie in seiner inzwischen 15-jährigen Karriere.

Sein siebtes Album, in Frankreich längst gefeiert, erscheint nun auch in Deutschland. „Robots après tout“ heißt es, was so viel bedeutet wie: Längst sind wir alle Roboter. Die Landsleute von Daft Punk hatten mit ihrem Electronic-Statement „Human after all“ eine vergleichsweise versöhnlerische Vorlage geliefert: Sind wir nicht trotzdem alle nur Menschen?

Keine Frage: Katerine hat Biss, man könnte auch sagen: Eier. Der traut sich was, nicht nur optisch. Der Text von „Excuse-moi“ etwa geht so: „Entschuldige bitte, ich hab dir in einem unpassenden Moment ins Haar ejakuliert. Ich dachte nicht, dass es mir käme, aber wenn du solche Sachen machst, kann ich mich nicht zurückhalten, selbst wenn ich versuche, an andere Dinge zu denken. Manchmal denke ich an meine Großmutter da oben im Himmel, die mir jeden Sonntagnachmittag Kuchen gab, der so komisch roch.“ Andere gedankliche Liebestöter sind die jährliche Rede des Staatspräsidenten am 14. Juli oder ein grässlicher Autounfall auf der Route Nationale 137. Alles vergebens.

Der große Hit auf „Robots après tout“ ist „Louxor j’adore“. Darin geht es um einen verrückten DJ, der die Leute auf der Tanzfläche ärgert, weil er dauernd mitten in einem Lied die Platte anhält. Am Ende wird er von der wütenden Menge an den Füßen aufgehängt. Ist das eine lustige Variante von „Panic“, dem Smiths-Song, in dem es heißt: „Burn down the disco, hang the DJ“? „Das Lied hatte ich tatsächlich im Hinterkopf. Aber bei mir ist es ja genau andersherum. Bei mir ist der Sänger der DJ, der die Leute so lange provoziert, bis sie ihn an den Füßen aufhängen. Er erleidet ein Martyrium, wie der heilige Sebastian. Mich erregt das, sexuell. Ich finde die Idee vom Sänger, auf den die Meute losgeht, der geopfert wird, sehr aufregend. Das Martyrium ist eine Obsession von mir; meine Freundinnen haben mir meine masochistische Ader oft vorgeworfen.“

Woher nur kommt dieser Hang zum Peinlichen, zum Lächerlichen? Aus purer Lust an der Provokation? Dies sind Fragen, bei denen sich der Sänger, Musiker und seit kurzem auch Filmemacher offenbar pudelwohl fühlt. „Nun ja“, sagt er und legt ein nur leicht gequältes Lächeln auf, „als ich die Fotos für das Albumcover zum ersten Mal sah, dachte ich schon: Auweia.“ Dabei sind die doch genial. „Genial, lachhaft, wie auch immer. Es stimmt schon, das Cover ist ein bisschen verstörend. Aber es verlangt dem Betrachter eine Haltung ab. Mit dem muss man sich auseinandersetzen, wie auch mit den Liedern.“

Im überaus grellen Video zu „Louxor“ sieht Katerine noch wilder, noch verrückter, noch bekloppter aus: Dort trägt er über der Kleidung vom Cover auch noch einen unschicken Damenpelzmantel. Zusammen mit seinen Background-Girls steht er auf der Ladefläche eines rollenden Lkws und tingelt durch die französische Provinz. Auf einem Dorfplatz sorgen sie so für einen Massenrave. Verbirgt sich in diesen karnevalesken Szenen eine Art Exorzismus versteckter Ängste? „Absolut! Das Video haben wir in einem Dorf direkt neben meinem Geburtsort gedreht. Als ich zwölf oder dreizehn Jahre alt war, bin ich eines Tages ins Zentrum gegangen und trug, aus einer Laune heraus, einen blauen und einen gelben Schuh. Die Leute haben mich ausgelacht und verspottet, das war Stadtgespräch, noch lange Zeit danach. Damals ist zwischen mir und dem Dorf ein wenig der Kontakt abgerissen, von da an galt ich als bunter Vogel, als schwarzes Schaf. Mit dem Video habe ich versucht, den Dialog wieder aufzunehmen.“

Und? Hat es funktioniert? „Ich glaube, schon. Die Leute sind aus ihren Häusern gekommen und haben gelächelt. Die meisten fanden es gut. Es war so etwas wie eine Versöhnung.“ Aber die Nachbarn von einst wussten natürlich auch: Das ist Katerine, der Paradiesvogel des französischen Pop, der im wirklichen Leben mit einer hinreißend schönen Frau zusammenlebt, der Sängerin und TV-Moderatorin Helena Noguerra. Für einen normalsterblichen Mann wäre es vermutlich nicht so leicht, nach Gusto im Damenmantel durch das Dorf zu stöckeln. „Stimmt. Und natürlich gab es auch Leute, die nicht auf die Straße gekommen sind oder die sich aufgeregt haben. Aber sie mussten sich damit auseinandersetzen. Und das ist die Hauptsache. Mir jedenfalls wird der Clip eine unvergessliche Erinnerung bleiben.“ Dem Zuschauer übrigens auch. „Umso besser!“

Zur allgemeinen Verblüffung schlug „Louxor j’adore“ vor allem das ganz junge Publikum in seinen Bann. Vielleicht lag es am kindlichen Spaß, mitten im Lied eine Platte abzuwürgen, oder daran, dass Katerines genial dilettantisches Crossdressing vorpubertärem Frohsinn besonders entgegenkommt. So mancher Jung-Teenager dürfte anschließend sein Taschengeld für das Album zusammengekratzt haben – und muss dort unter anderem auch über die unzeitgemäßen Ejakulationen gestolpert sein. Gab es in Frankreich eine Debatte um die Platte, oder gilt Monsieur Katerine schon als eine Art Musikclown, bei dem man mit allem rechnen muss? „Ich schätze mal, Letzteres. Mich hat es auch überrascht, dass Kinder so darauf abfahren. Das hat mir anfangs etwas Magenschmerzen bereitet, denn es gibt tatsächlich einige harte Sachen auf dem Album. Andererseits gefällt mir der Kontrast auch. In Frankreich gibt es bislang keine Aufkleber mit Warnungen vor ‚expliziten‘ Inhalten – womöglich kommt das ja jetzt.“ Sagt’s und freut sich.

„Robots après tout“ ist eine tickende Sexbombe im Kinderzimmer? „Wenn man so will, ja. Dadurch ist eine zusätzliche Ambiguität entstanden, eine Verunsicherung. Fein!“ Noch ganz andere Menschen könnten von diesem Album irritiert sein. Marine Le Pen zum Beispiel, jüngste Tochter des Front-National-Chefs Jean-Marie Le Pen und selbst höchst aktives Mitglied des FN.

Katerine, der sich in seiner Heimat schon einen gewissen Ruf erarbeitet hat, in seinen Texten jede Menge wirre und irre Träume zu verarbeiten, schildert in „Le 20.04. 2005“ eine zutiefst verstörende Vision: „Es war Samstag. Ich ging die Straße neben dem Rundfunkhaus entlang, da sehe ich vor mir eine Blondine mit langen Haaren. Ich nehme die Verfolgung auf, ich weiß auch nicht, ich war geil. Da dreht sie sich plötzlich um, und was sehe ich?“ Ein grauenhaftes Monster! Ab sofort ist Monsieur der Gejagte und Madame die Diana. In schrillem Diskant schildert er den ganzen schrecklichen Fluchtparcours nach Hause: Trocadero, Place de Chaillot, immer ist sie ihm auf den Versen. Metrostation Boissière, Metrostation Kléber. Scheiße, immer noch sie! Er versucht, ein Taxi herbeizuwinken. Mist, besetzt! Jetzt heißt es rennen! Ein richtiger Albtraum. An der Place de l’Étoile hat sie ihn fast eingeholt, es fehlen nur noch zwei Meter, er spürt es genau. Da endlich das Wunder, ein Taxi hält. Er rein. Gerettet! Das hektische Lied endet lapidar mit dem Satz: „An dem Tag habe ich mir gesagt: Wär ich mal besser zu Hause geblieben.“

Zusätzlich pikant wird das Jäger-wird-zum-Gejagten-Chanson durch den panischen Refrain: „Marine Le Pen! Du ahnst es nicht!“ Auf der Promokopie des deutschen Labels Bungalow Records ist indes nicht Marine Le Pen die blonde Bestie, sondern Jeanne La Pucelle, besser bekannt unter ihrem nom de guerre Jeanne d’Arc. Warum dieser Wechsel? „Wir haben verschiedene Fassungen aufgenommen. Auf einer hat mich sogar ein Hotdog verfolgt. Aber die Variante mit Marine Le Pen ist die richtige. Die Fassung mit Jeanne la Pucelle war nur auf ein paar hundert Fehlpressungen zu hören.“ Oh toll, eine Fehlpressung! Dann gab es also keine einstweilige Verfügung von Marine Le Pen gegen das Lied? „Nein, überhaupt nicht!“ Eigentlich wäre es ja sogar eine hübsche Vorstellung: Marine Le Pen protestiert, weil sie als verfolgende Unschuld dargestellt wird, und auf der gereinigten Neufassung ist dann Jeanne d’Arc das Monster. Zumal das Lied auch noch an einem 20. April spielt, Führers Geburtstag. „Ja, auch nicht schlecht, nicht wahr? Aber so war es nun mal nicht. Es ist ja eine wahre Geschichte, sie ist mir tatsächlich passiert – mit Marine Le Pen.“ Dann war das also gar kein absurder Traum? „Keineswegs! Das war Realität. Gut, ich hab’s ein bisschen verändert, aber im Kern ist mir das passiert. Ein einschneidendes Erlebnis für mich. Die Erfahrung, mich furchtbar zu vertun: Ich sehe vor mir eine Frau, die ich anziehend finde, und dann dreht sie sich um – und stellt sich als Monster heraus. Zumindest für mich ist sie eins.“

Philippe Katerine liebt die Herausforderung – und schont auch sich selbst dabei nicht. Auf seinem 1999 erschienenen Album „Les créatures“ zum Beispiel versteckte er ein Lied, das nur findet, wer den ersten Titel startet und dann mit der Rückwärtstaste zurückspult. „Le 8 décembre 2008“ handelt vom plötzlichen Tod des Sängers an ebenjenem Tag – nicht ganz von ungefähr Katerines 40. Geburtstag. „Ich weiß nicht mehr genau, woran ich gestorben bin“, spricht er dort ein wenig geistesabwesend, und im Hintergrund ist eine Frau zu hören, von der sich nicht recht sagen lässt, ob sie gerade aufschluchzt oder nicht doch eher zu kichern beginnt.

Schreckt ihn der vierzigste Geburtstag? „Aber ja! Natürlich!“ Die Antwort klingt nach ungespielter Panik. Weil es der 40. Geburtstag ist oder wegen des Lieds? „Nein, wegen des Lieds! Ich habe schon mehrfach Lieder geschrieben, die sich später als Vorahnungen herausgestellt haben. Viele Texte resultieren aus Träumen, oder sie kommen von sonst woher. Solche Texte passieren einfach, und hinterher stellt sich oft heraus, dass sie Realität werden.“ Da halten wir aber beide Daumen!

Im kommenden April wird Katerine wieder in Deutschland auftreten, in einer Tanztheaterfassung von „Robots après tout“, die er mit der Choreografin Mathilde Monnier erarbeitet hat. Und vielleicht wird nach dem Album hierzulande ja auch noch Katerines hochgelobter Episodenfilm „Peau de cochon“ veröffentlicht, ein Dokumentarfilm-Fake in Gonzo-Technik, denn stets mischt sich Katerine als sein eigener Kameramann in die Handlung ein. Am spektakulärsten ist eine Szene, in der er einen Kulturkritiker zu sich nach Hause eingeladen hat, um ihm seine Sammlung außergewöhnlicher … Exkremente zu zeigen. Der Kritiker spielt auch brav mit und diskutiert leicht indigniert die dicken Haufen, jeder fein säuberlich in einer offenen Tupperdose auf dem Couchtisch dargeboten: „Diese Arbeit da scheint mir etwas … figurativer als jene?“

Eine letzte Frage: Die exkrementellen Objekte im Film, aus welchem Material waren die denn? Jetzt geniert er sich aber doch ein wenig. „Hmm, öh, nun ja, das ist wirkliche …“ Scheiße?! „Jawohl. Zusammengesetzt aus den unterschiedlichsten Bestandteilen, aber zugleich sind es wirkliche Meisterwerke. Oder zumindest Werke, immerhin. Kleine Schätze! Es gibt einen französischen Zeichner, der bewahrt die Fäkalien seiner Frau auf; mir gefällt das gut, diese Weltsicht, auch in Scheiße einen Diamanten erkennen zu können.“

REINHARD KRAUSE, 45, ist taz.mag-Redakteur