: All die körperlosen Köpfe
Bei Reaktionären heißt es, genau hinzuschauen, sonst verpasst man die interessanten: Die Schirn in Frankfurt widmet Odilon Redon eine Retrospektive. Was bleibt vom Rätsel der Melancholie?
von ULF ERDMANN ZIEGLER
Mehr als zwanzig Jahre lang gab es keine Retrospektive von Odilon Redon, dem Künstler des 19. Jahrhunderts mit dem heiteren Namen. Die Schirn in Frankfurt am Main hat ihr Publikum mit dem Eigenbrötler James Ensor und dem Farbzauberer Yves Klein gut vorbereitet auf den Franzosen, der mit verstiegenen Traumgesichten und gruseligen Allegorien seine Zeitgenossen auf Trab hielt; erst als Illustrator von Edgar Allan Poe und dann Baudelaire.
Ein merkwürdiger Knabe muss er gewesen sein, der, 1840 geboren und einem Onkel anvertraut, seine Kindheit in der kargen Landschaft des Médoc verbrachte, nördlich von Bordeaux, auf einem Weingut namens Peyrelebade. Seine Schulkameraden fanden ihn kauzig. Ein Versuch, sich in Paris zum Architekturstudium einzuschreiben, scheiterte. Odilon war es recht. Er verbrachte die Jahre zwischen zwanzig und dreißig auf dem Gut, traf Künstler und Forscher in Bordeaux und richtete sich ein in ländlicher Melancholie.
Die Frankfurter Ausstellung eröffnet mit einem sehr bemühten kleinen Historienschinken von 1868/69, Öl auf Leinwand, das „Roland in Roncevaux“ zeigt, instruktiv insofern, als der Mythos, Redon sei erst spät überhaupt zur Farbe – zur Malerei – gekommen, durch dieses und weitere Beispiele widerlegt wird. Er wusste nur nicht, was er von der Farbe wollte.
Also verlegte er sich auf Kohlezeichnungen, später Lithografien, Nachtlandschaften, in denen Gestirne Gesichter hatten, Gesichter Fledermausohren und Augen Ufos spielten. Gert Mattenklott erkannte in Odilon Redon den Melancholiker, den er so skizzierte: „Passivität und Kontemplation, Fixierung auf dinglichen Besitz, die Reduktion der Wahrnehmungen aufs Optische, das Schreckliche als Erfüllung schwermütiger Erwartung, die Projektion sozialen und historischen Lebens in die Natur- und Vorgeschichte, der Selbstgenuss der Trauer als Mittel zur Steigerung der Intensität inneren Lebens.“
Drei große Reformen kamen Redon zu Hilfe gegen die Melancholie: der Preußische Krieg, in dem er gewahr wurde, kein Schwächling zu sein. Seine eher späte Heirat mit einer jungen Kreolin 1880, eine dauerhafte Ehe. Und der Verlust des Guts Peyrelebade 1897, die späte Abkopplung von allen Dingen der Familie. Da war er längst eine bewunderte Gestalt in Paris, nun Maler von surreal beleuchteten Seestücken und unauffällig psychedelisch gewendeten Blumenstillleben, in deren Hintergrund die Entdeckung William Turners auf einer Reise nach London steht.
Bizarr war das gewiss, als Maler zum Höhepunkt des Frühstücks-im-Freien eine Schau der Innerlichkeit zu betreiben, halb noch dem Bildungskanon verpflichtet und halb schon individuelle Mythologie. Die Ausstellung beginnt mit einer kleinformatigen Werkschau der Zeitgenossen und Vorbilder, Delacroix, Corot, Hugo, Bresdin, Goya. Würde man festhalten am Vergleich und neben ein spätes Gemälde wie „Die Geburt der Venus“ (1912) – die Nackte entsteigt am Strand einer rotglühenden Muschel – einen Munch hängen oder einen Bonnard, würde man sehen, was aus Redon in seiner Blüte geworden war: ein Kolorist ohne Halt, ein Illustrator ohne Auftrag, eher ein Leugner psychischer Ströme als ihr Interpret. Man wundert sich nicht, dass sein Werk über die Armory Show 1913 ausgerechnet in den USA zu größter Beliebtheit fand. Diese Art von Malerei galt zur Zeit von Pollocks Geburt als europäisch und überlegen: Griechenland als Seelenbonbon für Herrn Babbitt von der Main Street.
Ohne Zweifel leben wir in einer Zeit, in der man, glücklich entideologisiert, sich für Reaktionäre interessiert. In Leipzig schmückt sich Neo Rauch mit Ernst Jünger und Botho Strauß. In Frankfurt am Main preisen Martin Mosebach und Prinz Asserate Lithurgie und gutes Benehmen. Louis-Ferdinand Céline feiert Auferstehung; Malaparte wird rehabilitiert. Nun heißt es, genau hinzusehen, damit man nicht die Interessanten verpasst und die Mediokren bei dieser Gelegenheit untergejubelt bekommt.
Vielleicht ist gerade der Reaktionär ein Kind seiner Zeit. Redon – so legt Ursula Harter in ihrem hellsichtigen Katalogessay dar – gehörte zu denen, die durch Mikroskope schauten, in die Anatomie, in die soeben erfundenen Riesenaquarien jener Zeit. Er stand, wie die Kuratorin der Ausstellung, Margret Stuffmann, herausstreicht, unter dem Bann Darwins. Redon war ein Bewunderer Baudelaires und ein Freund Mallarmés. Der Eindruck kompletter Introvertiertheit trügt: Odilon Redons Bilder probieren das Durchdringen sich fremder Systeme, am krassesten „Das Kirchenfenster“ (oder: „Die Allegorie“) von 1907, das kein buntes Glas zeigt, sondern ein buntes Getümmel frei assoziierter Seetiere, die durch einen romanischen Fensterbogen hereinbrechen, dominiert von einer erektilen Blüte und deren weißem Pollengestöber. Keine Frage, Redon war Spezialist für das Hybride, ein Mann, der Motive auf Motive pfropfte. Ein Manierist: Immer schauen einen weit geöffnete, unschuldige Augen an. In einer Serie dreier Kohlezeichnungen (1881) erscheinen menschenähnliche Köpfe in der Gestalt von „Die weinende Spinne“, „Die lächelnde Spinne“ und „Der Kaktusmann“. Es sind Variationen zum Porträt des Schwarzen; in der Tat sieht die weinende Spinne Miles Davis erstaunlich ähnlich. Wie kommt das?
Redon war das Kind eines Paares, das, aus Amerika nach Frankreich zurückgekehrt, ein Kind hatte und es loswerden wollte. Er war entwurzelt, seine Mutter ein Mädchen aus New Orleans, deren Mutter eine Schwarze – und seine Frau, viel später, ebenfalls ein Kind der Kolonien, halb und halb, „kreolisch“. Da schließt sich offensichtlich sein Lebenskreis. Was macht man daraus? Warum wird es nicht gedeutet? Warum wird sein „Satan“ (1877) durch das körperlose Haupt eines Schwarzen repräsentiert? Könnte man Redon alternativ entziffern als amerikanischen Re-Immigranten – geplagt von diesen Fantasien eines körperlosen Hauptes, einer nicht materialisierbaren Erinnerung? Warum nicht sprechen vom Schicksal dieses Mannes: Hamsun zu Rate ziehen und Mark Twain? Was befindet sich im Kern dieses Noir: seine eigene Schwärze? Und was bedeutet im Gegenteil dann sein porno-rosafarbenes Sfumato, sein Hang zur lieblichen Entgrenzung?
Man sollte sich hüten, Odilon Redon als Eskapisten seiner Zeit zu bejubeln. Tun wir dies, bekommen wir als Nächstes die Retrospektive Franz von Stuck oder Laura Ashley. Trotz unzweifelhaft wichtiger Leihgaben und einer flüssigen Präsentation in Frankfurt kann man dem Enigma widerstehen: Redon bleibt eine Fußnote des Symbolismus, nicht Fisch, nicht Fleisch. Der Grübler, ins Heitere sich wendend; ein bisschen das Opfer seines Erfolgs. Wie er „Die mystische Barke“ treiben lässt, gelbes Segel auf grüner See, so lassen wir ihn ebenfalls – fahren dahin.
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