: Über die Gnade
„Die keine Schuld tilgt, nicht erworben werden kann, sondern unverdient gewährt wird.“ So hat mein Vater, der Publizist Günter Gaus, einmal den Begriff der Gnade definiert. Das Thema hat in seinem Leben mehrfach eine wichtige Rolle gespielt. Zum letzten Mal, als er Christian Klar ermutigte, ein Gnadengesuch an den damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau zu richten.
Er hatte Klar kennengelernt, als er im Dezember 2001 das bislang einzige Fernsehinterview mit dem ehemaligen RAF-Terroristen führte. Angespannt wirkte der damals 49-Jährige auf ihn, der zu diesem Zeitpunkt seit 19 Jahren inhaftiert war. Die erkennbare Mühe, die es dem Häftling bereitete, sich zu konzentrieren, hat meinen Vater tief verstört.
Konzentrationsschwäche – das hört sich harmlos an. Aber für meinen Vater war das nur ein äußeres Zeichen für den Gesamteindruck, den Christian Klar bei ihm hinterließ: nämlich den eines Mannes, der von langjähriger Haft schwer gezeichnet war. In deren Fortdauer konnte mein Vater keinen Sinn mehr erkennen. Weder den der Resozialisierung noch den der Vereitelung weiterer Straftaten.
Was für ein Motiv er denn eigentlich gehabt habe, sich für Christian Klar einzusetzen, bin ich in den letzten Tagen mehrfach von Journalisten gefragt worden. Einmal wurde in diesem Zusammenhang zart daran erinnert, dass seinerzeit ja viele Intellektuelle mit der RAF sympathisiert hätten. Ein grotesker Hinweis.
Niemandem, der in den 70er-Jahren ein herausgehobenes öffentliches Amt bekleidete, wird man eine auch nur „klammheimliche“ Sympathie für die RAF unterstellen können. Mein Vater galt zwar nicht als besonders gefährdet, aber seine damalige Position als Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin war doch hinreichend prominent, um seine alten Eltern, meine Mutter und auch mich in Angst zu versetzen.
Unvergesslich wird mir bleiben, welche Panik mich als 20-Jährige überfiel, als ein ehemaliger Mitschüler, der als „Anarcho“ galt, mich auf einer Geburtstagsfeier fragte, ob mein Vater eigentlich Leibwächter habe. Mit dem Abstand von drei Jahrzehnten lässt sich leicht sagen, diese Panik sei unbegründet und albern gewesen. Damals war es nicht lustig.
Schon allein deshalb – aber wahrlich nicht nur deshalb – wäre mein Vater nicht auf die Idee gekommen, das Leid der Familien von Terroropfern gering zu achten. Allerdings hat er auch nie geglaubt, dass sich dieses Leid gegen die Folgen langjähriger Haft oder gegen den Schmerz der Angehörigen ehemaliger Terroristen aufrechnen ließe. Das entsprach nicht seinem Verständnis von Humanität.
Sein Einsatz für Christian Klar entsprach diesem Verständnis. Er sah einen Menschen, dessen Taten er missbilligte und für dessen Recht auf eine eigene, wenigstens in Teilen noch selbstbestimmte Biografie er bis zuletzt eingetreten ist. Die Tatsache, dass den Opfern der RAF ein Teil ihrer Biografie geraubt worden ist, war ihm dabei durchaus bewusst.
Mein Vater hat Christian Klar im Gefängnis noch mehrere Male besucht, und er hat sich im Rahmen seiner Möglichkeiten persönlich für dessen Begnadigung eingesetzt. Kameras und Mikrofone suchte er dabei nicht, im Gegenteil. Der kleine Kreis, dem er von seinen Bemühungen erzählte, musste ihm vollständige Verschwiegenheit zusichern.
Er wusste, warum. Er hat den Verlauf der öffentlichen Diskussion im Falle einer Indiskretion ziemlich präzise vorhergesagt. Mir ist diese Einschätzung damals auf die Nerven gegangen. Ich hielt sie für einen Ausdruck von Kulturpessimismus.
Am 14. Mai 2004 ist mein Vater gestorben. Noch an seinem Todestag erkundigte er sich nach dem Stand der Dinge. Ich bin dankbar dafür, dass wir ihm damals wahrheitsgemäß sagen konnten, die Angelegenheit sei noch nicht entschieden. Was ja zumindest bedeutete: keine Ablehnung des Gnadengesuchs. Naiv ist mein Vater allerdings nie gewesen. Dann werde Rau nun wohl nicht mehr tätig werden, sagte er traurig. Meinen Einwand, er sei doch immerhin noch einige Tage im Amt, beantwortete er nur mit einem sehr müden Lächeln.
Er hat sich nicht getäuscht. Am 23. Mai 2004 wurde Horst Köhler zum Bundespräsidenten gewählt. Dass ihn sein Vorgänger bei der Übergabe der Amtsgeschäfte offenbar nicht einmal auf das schwebende Begnadigungsverfahren hingewiesen hat, hätte mein Vater wohl dennoch nicht für möglich gehalten. Vielleicht hatte Johannes Rau dafür Gründe, die er für gut hielt. Wir können ihn nicht mehr fragen.
Ich bin auch dankbar dafür, dass mein Vater die Diskussion der letzten Tage nicht erleben musste. Er wäre daran verzweifelt, Recht behalten zu haben. Diese Diskussion nutzt niemandem. Sie schadet allen Beteiligten. Dem Bundespräsidenten, Christian Klar und auch den Familien der RAF-Opfer.
Ja, auch ihnen. Sie werden missbraucht. Was sollen sie zu einer möglichen Begnadigung der Mörder ihrer Angehörigen denn sagen? Es ist ein zivilisatorischer Fortschritt, dass Opfern heute – anders als in vielen archaischen Gesellschaften – nicht mehr die Bürde des Richteramts auferlegt wird. Das bedeutet nämlich auch: Ihnen wird das Recht auf Unversöhnlichkeit zuerkannt. Sobald man sie in den Rang einer Instanz erhebt, beraubt man sie jedoch dieses Rechts. Was sich als Mitgefühl mit den Opfern tarnt, ist in Wahrheit nichts anderes als ein Versuch, Erbarmungslosigkeit zu legitimieren.
Erörtert wird in diesen Tagen mancherlei: die historische Rolle der RAF, das Verhältnis des Staates zu Terroristen, das komplexe Geflecht aus Sühne, Reue und Vergebung. In all diesen Diskussionen verliert Christian Klar den Charakter des Individuums. Er wird zum Symbol. Er ist aber kein Symbol. Sondern ein einzelner Mensch, der um Gnade gebeten hat.
Es gibt allerdings auch Leute, die sich mit der Person von Christian Klar und mit dessen Entwicklung auseinandersetzen. Da sie diese Entwicklung nicht kennen – gar nicht kennen können –, erheben sie erst einmal Forderungen: Reue möge er bekunden, sich entschuldigen, der Gewalt abschwören. Ob er das längst getan hat: wer weiß? Und wie wichtig ist das denjenigen, die jetzt – kenntnislos und zungenfertig – die Gelegenheit wahrnehmen, sich schnell zu profilieren?
Unions-Fraktionschef Volker Kauder hat darauf hingewiesen, dass die Begnadigung eine sehr persönliche Gewissensentscheidung des Bundespräsidenten sei. Und hinzugefügt: „Auch wenn man deshalb keinen öffentlichen Rat erteilen sollte, habe ich natürlich eine persönliche Meinung dazu.“ Die sei ihm unbenommen. Aber ist es nicht das Merkmal einer – nur – persönlichen Meinung, dass sie nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist?
Die beiden Menschen, die das Gnadengesuch unmittelbar betrifft und direkt angeht, melden sich nicht zu Wort. Sie können es nicht, sie dürfen es nicht. Horst Köhler und Christian Klar werden in diesen Tagen auf seltsame Weise zu Leidensgenossen: Sie sind gleichermaßen zum Schweigen verurteilt.
Würde Christian Klar sich jetzt äußern, dann wäre der Eindruck unabweisbar, dass er auf dem Umweg über die Medien versuchte, Druck auf den Bundespräsidenten auszuüben. Es kann bezweifelt werden, dass dies seinem Wunsch nach Begnadigung förderlich wäre. Abgesehen davon: Es gehörte sich einfach nicht.
Was sollte Klar denn sagen? „Wie ich dem Bundespräsidenten bereits geschrieben habe“ oder auch: „Was ich in meinem Gnadengesuch zu erwähnen vergaß, nach dem dankenswerten Hinweis der Bild-Zeitung jetzt aber gerne nachtragen möchte“? Alle Forderungen nach einer öffentlichen Stellungnahme des Häftlings sind nur eines: populistisch. Christian Klar hat sich der Gnade ausgeliefert. Damit hat er sich zugleich – wenigstens vorübergehend – der Möglichkeit begeben, sich selbst zu erklären.
Auch der Bundespräsident kann und darf sich nicht äußern. Ein schwebendes Verfahren ist ein schwebendes Verfahren. Jeder konkrete Hinweis auf seine eigene Position oder auf die Haltung des Gefangenen verletzte dessen Persönlichkeitsrechte. Aber ja doch: Auch ein Mörder hat Rechte. Und eine Persönlichkeit.
Man könnte darüber diskutieren, ob es das Gnadenrecht eines Staatsoberhauptes in einer demokratischen Gesellschaft überhaupt geben sollte. Darüber wird aber nicht diskutiert. Stattdessen wird dieses – über dem Recht stehende – Recht so behandelt, als gehe es um einen Gesetzesentwurf. Über den mehrheitlich, gerne auch mit dem abgeschmackten Mittel des TED-Votums, abgestimmt werden kann.
Aber weder der Text eines Gnadengesuchs noch die Entscheidung darüber ist Angelegenheit des Souveräns, also des Volkes oder seiner gewählten Vertreter. Der Bundestag ist nicht befasst. Der Souverän hat dieses Recht als ganz und gar individuelles Recht seinem höchsten Repräsentanten übertragen.
Es ist ein sehr großes Privileg, das dem Staatsoberhaupt somit eingeräumt wird. So verständlich es ist, dass auf dem Weg von den lichten Höhen der Ideale auf die Ebene des politischen Alltags manches verloren geht: Wenigstens ein gewisser Freiraum für eine eigene Entscheidung sollte dem Bundespräsidenten bleiben, solange es dieses Privileg gibt. Jeder öffentliche Ratschlag, jede Bedingung, die für einen Gnadenerweis genannt wird, ist deshalb vor allem eines: eine Respektlosigkeit.
Wenn man sich in eine öffentliche Diskussion mit der Forderung einmischt, diese Diskussion müsse endlich beendet werden, dann ist das ein Widerspruch in sich. Denn man beteiligt sich damit ja zwangsläufig an der Debatte, die man beendet sehen will. Das ist unvermeidlich – andererseits aber genau deshalb legitim. Andernfalls wäre es niemals möglich, öffentlich eine solche Ansicht überhaupt zu vertreten.
Aber ich möchte diese Ansicht gerne vertreten. Ich wünsche mir einen Schluss der öffentlichen Debatte. Roman Herzog, der Verfassungsrichter war, bevor er Staatsoberhaupt wurde, sagte einst: Der Bundespräsident schulde für einen Gnadenerlass keine Rechenschaft. Das stimmt.