: Das Bruder-Johannes-Revival
Altbundespräsident und Ex-SPD-Landesvater Johannes Rau erlebt posthum ein Comeback bei Politikern, Malern und Wissenschaftlern. Ministerpräsident Jürgen Rüttgers führt den Fanclub an
VON HOLGER PAULERUND MARTIN TEIGELER
Die Kürzel lassen nichts Gutes erahnen: a. D., ehem., em. – wer sich amüsieren möchte, sollte heute und morgen das „Haus der Geschichte des Ruhrgebiets“ in Bochum meiden. Die leicht ergraute, emeritierte und teils lang verrentete Prominenz aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft gedenkt an diesen beiden Tagen dem Staatsmann Johannes Rau: Sozialdemokratie, Landespolitik und Zeitgeschichte stehen unter dem Motto „Versöhnen statt Spalten“. Ein Jahr nach seinem Tod wird es Zeit, den je nach Bestimmung ehemaligen Bundespräsidenten, NRW-Ministerpräsidenten oder Genossen wieder ins kollektive Gedächtnis zu rufen.
Der Veteranentreff im Ruhrgebiet ist der bisherige Höhepunkt des Rau-Revivals: Exgegner Norbert Blüm wird mit Raus Mitprotestant Manfred Stolpe über das Leben des Wuppertaler Politpredigers plaudern – moderiert von WAZ-Chefredakteur Ulrich Reitz. Der SPD-Parteiideologe Erhard Eppler referiert über die „Gesamtdeutsche Volkspartei als ‚Kaderschmiede‘ deutscher Bundespräsidenten“ und Witwe Christina Rau eröffnet eine Fotoausstellung. Motto: „Das Leben menschlicher machen“. Am Ende des zweitägigen Programms könnte es morbide werden für die Rau-Supporter: Der Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler erzählt aus der Bielefelder Schule über Rau und das „Ende des sozialdemokratischen Zeitalters“ (Dahrendorf).
Nur Jürgen Rüttgers fehlt bei der Tagung in Bochum. Dabei hat sich der CDU-Ministerpräsident in den letzten Monaten als Lordsiegelbewahrer des Rauschen Polit-Erbes profiliert. Erst in der vergangenen Woche enthüllte Rüttgers in der NRW-Staatskanzlei gemeinsam mit der Familie Rau ein Gemälde des früheren Landesvaters. „Die Güte und Freundlichkeit des Menschen Johannes Rau werden in dem Bild gespiegelt“, sagte Rüttgers beim Anblick von Rau in Öl. Dass die Künstlerin von Rüttgers erst nach dem Ableben des SPD-Politikers mit dem Porträt beauftragt wurde und deshalb gezwungen war, von Fotos zu malen, störte die feierliche Stimmung nicht. Hauptsache Rau. Rüttgers – seit einiger Zeit selbst ernannter Chefsozialpolitiker der Union – zitiert den Menschenfischer bei jeder Gelegenheit und ist dabei, die Definitionshoheit über Rau zu gewinnen.
Die Tiefpunkte von Raus fast zwanzigjähriger Amtszeit als Ministerpräsident kommen bei den offiziellen Feierlichkeiten meist nur am Rande vor: etwa der Verlust der absoluten SPD-Mehrheit bei der NRW-Landtagswahl 1995. Der Landesvater musste eine rot-grüne Koalition eingehen. „Rau hatte zu diesem Zeitpunkt schon längst nicht mehr die Fäden in der Hand“, erinnert sich der damalige Fraktionsvorsitzende der Grünen, Roland Appel. In den Koalitionsverhandlungen führte Wolfgang Clement die Regie. „Rau hat nur noch die großen Runden moderiert“, sagt Appel. Mit viel Phantasie und Gefühl. Regierungserklärungen klangen „wie Märchen und Märchen wie Regierungserklärungen“. 1998 wurde Rau vom damaligen Wirtschaftsminister Clement als Ministerpräsident beerbt. Es war keine freundliche Übernahme. Aber eine notwendige. Der Protestant hatte politisch abgewirtschaftet.
Von einem „Totenkult um Rau“ könne man heute nicht sprechen, sagt hingegen der NRW-SPD-Vize Karsten Ru–dolph. Es gebe aber offensichtlich „ein Bedürfnis nach einer positiven Identifikationsfigur“ für NRW. Rüttgers versuche lediglich, Rau zu imitieren, so der Historiker: „Rau konnte Vertrauen bei Menschen aufbauen, Rüttgers kann das nicht.“
Doch Rüttgers lässt sich in seiner Rau-Verehrung nicht übertreffen. Bei der Vorstellung des Rau-Gemäldes in der Regierungszentrale lobte der Christdemokrat voller Überschwang die Gewohnheit seines SPD-Amtsahnen, Briefe persönlich zu beantworten: „Die Handschrift von Johannes Rau ist ein Stück Gegenwartskunst.“