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Archiv-Artikel

Ein Wunder, dass wir schlafen können

Das eigene Leben als Labor. Der Filmemacher Alan Berliner leidet seit seiner Kindheit an Schlaflosigkeit. In seiner experimentellen Dokumentation „Wide Awake“ setzt er sich leidenschaftlich damit auseinander

Do, 1. 2., 20 Uhr, Lichtmess, Gaußstraße 25

Das Leben sei etwas, das passiere, wenn man nicht schlafen könne, formulierte die Autorin Fran Lebowitz einst. Alan Berliner kann dem bestimmt zustimmen. Bereits als kleines Kind wurde ihm bewusst, dass er unter Schlafstörungen leidet. Waren es der nächtliche Streit der Eltern, das Gefühl der Angst und des Wachbleiben-Müssens, die ihn nicht schlafen ließen? Oder hat er seine Schlaflosigkeit geerbt? Schon sein Vater schlief schlecht und der Großvater nahm über 30 Jahre lang Schlaftabletten. Wurde er zur Nachteule, weil er nicht einschlafen konnte, oder kann er nicht einschlafen, weil er „biologisch“ als Nachtmensch programmiert ist?

In seiner neuen experimentellen Dokumentation „Wide Awake“, die heute Abend im Lichtmess zu sehen ist, nutzt der Filmemacher – ähnlich wie in seinen Filmen „Intimate Stranger“, „Nobody’s Business“ und „The Sweetest Sound“ – sein eigenes Leben als Laboratorium, begibt sich auf die Suche nach den Gründen seiner Insomnie, dem angstbesetzten unerforschten Gebiet in ihm, und gibt einen intimen Einblick in seine lebenslange Besessenheit vom Thema Schlaflosigkeit. Er erzählt von den dadurch verursachten Qualen – dem „Jetlag ohne Zeitverschiebung“, der Tatsache, dass sein Tagesablauf mit dem der Familie nicht zu vereinbaren ist – wie dem Segen der auf diese Weise gewonnenen Zeit für künstlerisches Schaffen.

Denn die Hunderte alter Spiel- und Dokumentarfilmausschnitte, Aufnahmen von Besuchen beim Schlafspezialisten, Gespräche mit Familienmitgliedern und Visualisierungen von Träumen, die der 50-Jährige zur Erläuterung seines Zustandes heranzieht, hat er selbstverständlich geschnitten, als alle anderen schliefen. Wozu sollte er sich auch herumwälzen, wenn die Gedanken wieder im ruhelosen Kopf herumschießen wie Flipperkugeln, wenn die Obsession ihn nicht zur Ruhe kommen lässt? Was ihn vom Schlafen abhält und von seiner Familie trennt, ist für Berliner der Energiespender der nächtlichen Kreativität. Und so sucht „Wide Awake“ nicht nur eine Filmsprache für die Vermittlung der Insomnie, er ist auch ein Film über die Auswirkungen der Schlaflosigkeit auf das künstlerische Schaffen, über das Filmemachen selbst. Ein Porträt des Künstlers als Schlafloser.

Einen Grund für seine Schlaflosigkeit hat Berliner übrigens gefunden: Sein in 35 Jahren angesammeltes Archiv von Bildern, Texten und Klängen, das fein sortiert und gekennzeichnet die Wände seines Studios verkleidet, die Grundlage und Inspirationsquelle all seiner Filme. Berliner ist die Verkörperung der Über-Stimulation durch unsere mediensaturierte Umwelt. Denn bei all dem, was um uns herum passiert, ist das eigentliche Wunder, dass wir überhaupt schlafen können. ROBERT MATTHIES