: Ein deutscher Adler gegen Erzengel Gabriel
UNGARN Das Denkmal für die deutsche Besetzung Ungarns wurde klammheimlich über Nacht aufgestellt, ein makabres Kunstwerk
HISTORIKER LÁSZLÓ KARSAI
AUS WIEN RALF LEONHARD
Erzengel Gabriel erschien mitten in der Nacht und richtete sich auf dem Budapester Freiheitsplatz ein. Das in Bronze gegossene Himmelsgeschöpf bildet das Zentrum eines Denkmals, mit dem das offizielle Ungarn der Besetzung des Landes durch die deutsche Wehrmacht vor 70 Jahren gedenkt. Das Monument ist lange vor seiner klammheimlichen Errichtung Ziel von Demonstrationen.
Seit Monaten wird täglich vor der Baustelle am westlichen Ende des Szabadság ter in Budapest demonstriert. Mitglieder und Sympathisanten der jüdischen Gemeinde haben Fotos deportierter Juden und Alltagsgegenstände wie Schuhe oder Kinderspielzeug vor der Baustelle arrangiert. Sie sollen daran erinnern, dass 1944 mehr als 435.000 ungarische Juden in die Vernichtungslager verschickt wurden. Der berühmte Operndirigent Adam Fischer dirigierte vor Wochen einen Chor aus Demonstrantinnen und Demonstranten, die Schillers Ode an die Freude auf Ungarisch sangen. „Geschichtsfälschung ist geistige Brunnenvergiftung“ stand auf einem Transparent hinter der kleinen Tribüne, auf der der Musiker im Polohemd stand.
Das Denkmal stellt das von Reichsverweser Miklós Horthy autoritär regierte Ungarn als unschuldiges Opfer einer deutschen Okkupation dar. Vor dem Hintergrund von 13 Säulen stürzt ein metallener Adler auf den Erzengel herab. Der Engel steht für Ungarn, der Adler natürlich für das Deutsche Reich. Für Adam Kerpel-Fronius, einen wissenschaftlichen Mitarbeiter der deutschen Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, besteht die Geschichtsverfälschung darin, „dass Ungarn ein komplett unschuldiges Opfer des deutschen nationalsozialistischen Aggressors war. Während man den Holocaust als tragisches Kapitel der Geschichte anerkennt, wird die Verantwortung dafür allein Hitler-Deutschland in die Schuhe geschoben.“
Ungarn nahm ja als Teil der Achsenmächte aktiv am Zweiten Weltkrieg teil und führte Krieg gegen Jugoslawien und gegen die Sowjetunion. Und schon lange vor der deutschen Besatzung hatte Ungarn Tausende Juden in den Tod geschickt oder als „Arbeitsdienstler“ zur Zwangsarbeit in die ungarischen Armee eingezogen. Horthy war ein Verbündeter Hitlers, der sich später als Retter der Juden feiern ließ. Denn im Juli 1944 stoppte er die Deportation von 200.000 Budapester Juden. Vorher hatte er allerdings mehr als 435.000 Juden in die Vernichtungslager schicken lassen. „Ich kann die Rehabilitierung von Horthy und seinem Regime nicht hinnehmen“, protestiert der Zeithistoriker László Karsai, der einen von mehr als 100 ungarischen Intellektuellen unterzeichneten Brief verfasst hat, in dem die Gedenkpolitik der Regierung verurteilt wird. Karsai findet es untragbar, dass die Opfertheorie sogar in der Verfassung festgeschrieben wurde: „Das ungarische Volk ist unschuldig an allen Ereignissen zwischen 1944 und der Wende 1990. Mit der Ausnahme von wenigen Kollaborateuren. Ich bin wirklich enttäuscht, dass die Regierung sich diese Geschichtsdeutung zu eigen gemacht hat.“
Premier Viktor Orbán hat das Monument gegenüber einer empörten jüdischen Gemeinde damit verteidigt, dass man „den gegenseitigen Respekt, das Verständnis und die Zusammenarbeit unserer Gemeinden“ fördern wolle: „Das Denkmal, das die Opfer der deutschen Besatzung ehrt, ist ein Schritt in diese Richtung.“
Dennoch wollten Kritik an Inhalt und Form des Monuments nicht verstummen. Der Einweihungstermin zum Jahrestag des deutschen Einmarsches am 19. März wurde zunächst bis nach den Wahlen vom 6. April verschoben. Dann war von Ende Mai und schließlich Ende Juni die Rede. Wann es nach der überfallartigen Aufstellung der Figuren zum offiziellen Festakt kommt, weiß noch niemand.