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Archiv-Artikel

Eine große Erzählung von der Wildnis des Menschen

ÜBERLEBEN Oh ja, die Zivilisation hat Vorteile: Der kanadische Autor Joseph Boyden ist mit seinem eindrucksvollen Roman „Durch dunkle Wälder“ seinen indianischen Wurzeln auf der Spur

Auf einen komatösen Ich-Erzähler stößt man auch nicht alle Tage. Eine reichlich unrealistische Erzählsituation scheint es auf den ersten Blick zu sein, die Joseph Boyden uns hier zumutet. Der Cree-Indianer Will liegt im Krankenhaus, im tiefen Koma. Die Ärzte haben ihn eigentlich aufgegeben, doch wir, die LeserInnen, wissen, dass er noch bei Bewusstsein ist, denn er spricht zu uns. Eigentlich zu Annie, seiner Nichte, die Tag für Tag an seinem Bett sitzt, doch sie kann ihn ja nicht hören. Und dennoch spricht auch sie mit ihm. Erzählt ihm, erzählt und erzählt – von allem, was ihr zustieß, seit sie in die großen Städte des Südens zog, um nach ihrer verschwundenen Schwester Suzanne zu suchen.

Geschehen ist nicht wenig. Nicht nur ist Annie in dieser Zeit zum Model geworden und damit in die Fußstapfen der verschwundenen, viel schöneren Suzanne getreten, nicht nur hat sie mit dem Stadtindianer Gordon einen ständigen, wenngleich stummen Begleiter aufgegabelt, der sie beschützt, wenn es nötig ist. Sie ist auch in Berührung gekommen mit den bösen Buben, die möglicherweise die Schwester verfolgen. Und so ist Annie gerade mal so mit dem Leben davongekommen.

Dollars, Drogen, Glamour

Die Erzählung Annies, und darin folgt der Roman einer recht natürlichen Chronologie, wird etappenweise abgeliefert, denn zwischendurch muss die Erzählerin auch mal nach Hause fahren, Marderfelle verkaufen, Biberschwänze rösten und sich um Gordon kümmern, der sie auf der Flucht aus den Städten in die nördliche Heimat begleitet hat. In dieser Zeit, da niemand mit ihm spricht, ist das Bewusstsein des Komapatienten Will frei, seinerseits zum Ich-Erzähler zu werden und nach und nach das Drama vor uns aufzurollen, das dazu führte, dass er sich jetzt in dieser todesnahen Lage befindet.

Was nach einer überkonstruierten Erzählanordnung klingt und beim Lesen denn auch zunächst für Stutzen sorgt, funktioniert auf die Dauer erstaunlich gut und hat einen tieferen Sinn, den man recht schnell einsieht. Beide Erzählungen, Annies Storys von Dollars, Drogen und Glamour, sowie Wills Bericht von einer blutigen ländlichen Fehde, die ihn zeitweise in die Wildnis trieb, werden sich an ihrem jeweiligen Ende in der Gegenwart treffen. Bis dahin aber sind es zwei in sich abgeschlossene Kosmen, die nur deswegen so abgeschlossen sein können, da kein ordnendes Bewusstsein darüber steht, keine auktoriale Erzählerfiktion, die gottgleich über ihre Figuren wacht.

Es sind zwei in ihrer Wahrnehmung perspektivisch beschränkte Ichs, die reichlich ahnungslos durch ihre Geschichten ziehen, in die sie fast ohne eigenes Zutun geworfen wurden. Beide geraten mehrfach in Lebensgefahr, vor allem Will hat mit Angriffen eines lokalen, in Drogengeschäfte verwickelten Irren zu kämpfen, greift schließlich zum fragwürdigen Mittel der Vorab-Selbstverteidung und flieht vor etwaiger Verfolgung noch weiter nach Norden, um einsam in der Natur zu leben und dabei alle ihm durch Überlieferung geläufigen indianischen Überlebenstechniken anzuwenden.

Diesem Teil des Romans ist ein Touch von angewandter Ethnografie eigen, was anregend ist, zumal deutlich wird, dass all die beschriebenen traditionellen Kulturtechniken – Fallen stellen, Erdhöhlen bauen, Fleisch räuchern – wenig nützen, wenn die Natur sich anschickt, dem Menschen das mühsam Errungene wieder zu rauben. Die Natur: das kann alles sein, von einem hungrigen Eisbären bis hin zu einem Unwetter. Oh ja, die Zivilisation hat ihre Vorteile.

Joseph Boyden, der unter anderen auch indianische Wurzeln hat, verklärt weder die Tradition, noch verdammt er die Moderne, oder umgekehrt. Vielmehr schreibt er seinen Roman quer über den Spalt hinweg, der zwischen beiden verläuft. Das eine Konzept muss das andere nicht ausschließen; vieles, sehr vieles ist möglich im Leben der Menschen, auch unzählige Mischformen der Existenz. Dass es dabei auch zu bedrohlichen Brüchen kommt, zeigt „Durch dunkle Wälder“ eindrücklich. Aber auch, dass es jedem Menschen möglich ist, aus dem, was ihm gegeben ist, das Beste zu machen – trotz allem.

Ja, Joseph Boyden ist ein Autor mit einer Botschaft. Aber vor allem ist er ein Autor, der wirklich viel zu erzählen hat. „Dunkle Wälder“ ist Boydens zweiter Roman nach „Der lange Weg“ (dt. 2006) und gleichzeitig der zweite Teil einer geplanten Trilogie. Hoffentlich dauert es nicht zu lange, bis der dritte fertig ist.

KATHARINA GRANZIN

■  Joseph Boyden: „Durch dunkle Wälder“. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Knaus, München 2010. 446 Seiten, 22,99 Euro