piwik no script img

Archiv-Artikel

Aktenzeichen Hartz IV

AUS BERLIN SIMONE SCHMOLLACK

Mancher knallt Margit Höltge sein Schicksal direkt auf den Tisch. Als wollte er sagen: Da, nun machen Sie mal! Dann macht Margit Höltge. Die dunkelhaarige Frau ist Richterin am Sozialgericht Berlin, dem größten in Deutschland.

Jeden Tag wird hier in der Invalidenstraße über Recht und Unrecht entschieden: Rente, Krankenkasse, Pflegeversicherung. Vor allem aber Hartz IV. Die, die zu Margit Höltge kommen, erwarten Hilfe. Sie fühlen sich ungerecht behandelt. Von den Behörden, vom Leben. Richterin Höltge ist eine ruhige, besonnene Frau, die das irdische Dasein sehr gut kennt. Sie hat nicht alles selbst erlebt, aber sie kennt die Aktenlage. Seit 1990 ist die 46-jährige Juristin Sozialrichterin, seit zwei Jahren Hartz-IV-Richterin.

Dieser nasskalte, stürmische Januartag sieht für die Juristin ein Verhandlungsbarometer mit einer Skala zwischen 21,24 Euro und 4.000 Euro vor. Es werden Einsprüche vom Frühsommer 2006 verhandelt. Bis Ende Dezember haben allein in Berlin 26.185 Menschen Klage eingereicht, 11.892 davon – fast die Hälfte – betrafen Hartz IV. 8.768 Verfahren wurden schließlich eröffnet, die anderen müssen weiter warten.

Margit Höltge und ihre Kollegen tun, was sie können. Aber so viel sie auch arbeiten, es werden immer mehr Fälle. Jeden Morgen kurz vor neun bringt das Postauto 20 gelbe Plastikkisten mit Klagen, Anträgen, Bescheiden. Am Sozialgericht arbeiten inzwischen 80 Richter, viermal so viel wie vor 2005, als das Gesetz über das Arbeitslosengeld II in Kraft getreten ist. 50 von ihnen sind mit Hartz-IV-Fällen befasst.

Bis zu zweimal in der Woche tritt Margit Höltge diesen Klägern gegenüber, in Raum 48 des gelb getünchten kantigen Hauses. An manchen Tagen zieht sie neun Fälle in acht Stunden durch. Geht alles glatt, schließt sie die grünen Aktendeckel ein für alle Mal. Klappt das nicht, wächst der Ordner, Blatt für Blatt. Manche sind 400 Seiten stark – das sind Fälle, die sich über Monate hinziehen.

Margit Höltge, in schwarzer Robe, betritt mit zwei ehrenamtlichen Richtern das Verhandlungszimmer. Auslegware, schlichtes Verwaltungsmobiliar – ein Gericht arbeitet im Namen des Volkes, das Sozialgericht will besondere Nähe herstellen. Margit Höltge und die Verhandlungspartner sitzen sich direkt gegenüber, nur eineinhalb Meter trennen sie voneinander. Für die Richterin nah genug, um dicht dran zu sein am Fall. Und weit genug, um distanziert und gerecht urteilen zu können.

Beim ersten Fall – Aktenzeichen S 8 AS 5737/06 – geht es um 21,24 Euro. Rosemarie Schmidt * gegen das Jobcenter Berlin-Lichtenberg. Frau Schmidt ist 48 Jahre alt, seit vier Jahren arbeitslos und verzweifelt. Das Jobcenter fordert von ihr 21,24 Euro zurück. Die hat Rosemarie Schmidt zu viel bekommen. Margit Höltge blättert sich zügig durch die Akte, dann rollt sie den Fall auf: Rosemarie Schmidt habe ab November 2005 weniger Miete zahlen müssen, monatlich 7,08 Euro. Das habe sie dem Jobcenter mitgeteilt und gebeten, die Summe ab sofort vom Arbeitslosengeld II abzuziehen. Aber nichts sei passiert, Frau Schmidt habe weiter den alten Betrag erhalten. Dreimal, erklärt die Klägerin, sei sie bei ihrer Bearbeiterin gewesen – dreimal wurde die höhere Miete weiter auf ihr Konto überwiesen. Erst dann fiel dem Jobcenter der eigene Fehler auf. Rosemarie Schmidt bekam einen Brief: Fortan bekomme sie, hieß es, 7,08 Euro weniger pro Monat, darüber hinaus habe sie umgehend die 21,24 Euro zurückzuzahlen und zudem mit einer Kürzung ihrer monatlichen Leistungen um 30 Prozent zu rechnen. Begründung: Rosemarie Schmidt habe ihre Mitwirkungspflicht nicht erfüllt, sie habe nicht Bescheid gesagt, dass sie weniger Miete zahlen muss.

„Aber das habe ich“, sagt die Frau in der roten Winterjacke schüchtern. Immer tiefer rutscht sie auf ihrem Stuhl, die ganze Sache ist ihr unangenehm: „Ich kann doch nichts dafür, dass weiter gezahlt wurde“, sagt sie tapfer. Richterin Höltge wendet sich an die Mitarbeiterin des Jobcenters: „Ist das so richtig?“ „Ja“, antwortet diese ohne Umschweife, „wir haben so viel zu tun, dass manche Bescheide mit den gesamten Textbausteinen rausgehen, auch wenn sie gar nicht zutreffen.“ Margit Höltge nickt, solch einen Satz hört sie öfter. Seit das Gesetz über Hartz IV in Kraft ist, wachsen auch in den Jobcentern die Aktenberge ins Unermessliche.

Für Margit Höltge ist die Sache klar: „Der Fall ist unstreitig, die Klägerin hat sich nichts zuschulden kommen lassen. Ich schlage einen Vergleich vor: Frau Schmidt zahlt 21,24 Euro in zwei Raten an das Jobcenter retour und zieht ihre Klage zurück. Das Jobcenter kürzt die Zahlungen nicht um 30 Prozent. Einverstanden?“ Einverstanden. Rosemarie Schmidt hat es nun schriftlich: Sie ist keine Betrügerin. Das Jobcenter ist zufrieden: Es kriegt das Geld zurück. Drei Viertel aller Hartz-IV-Prozesse enden einvernehmlich. Manchmal verhandelt Margit Höltge auch um 21,24 Euro. Jeder Fall wird angenommen, für die Beteiligten ist das kostenlos.

Im Grunde ist Margit Höltge eine Händlerin. Das Produkt, das sie anbietet, heißt Rechtsfrieden. Sie vermittelt zu beiden Seiten. Sie hätte auch entscheiden können, dass Rosemarie Schmidt die paar Euro nicht zurückzahlen muss, schließlich hat das Jobcenter den Fehler gemacht. Doch wem nützt das? Das Jobcenter hätte geklagt, aus der Windbö wäre ein Sturmtief geworden.

An diesem Tag wird Margit Höltge noch fünf weitere Vergleichsangebote aussprechen, Kläger und Beklagte werden sie annehmen. Drei Kläger werden mit dem Urteil von Margit Höltge nicht einverstanden sein, sie gehen in die nächste Instanz. Es geht um Miet- und Energiezuschüsse, Regelleistungen, Untermietverträge, unvollständig ausgefüllt Anträge, Rückzahlungen. Leichte und mittelschwere Fälle. Tür auf, Tür zu, immer im Halbstundentakt.

Einmal weist sie das Jobcenter an, seine Kunden verständlich und fundiert zu beraten, ein anderes Mal, korrekte Bescheide zu versenden. Eine Frau soll 2.268 Euro an die Behörde zurückzahlen, sie hat ihre so genannte Mitteilungspflicht nicht erfüllt. Einem Mann gewährt Margit Höltge einen Mietzuschuss, seinen Antrag auf weitere Zahlungen lehnt sie aber ab. Und sie weist die Klage einer jungen Frau auf Erstattung der Babyausstattung zurück. Das Kind ist inzwischen zwei, Kinderwagen, Kleidung, Windeln hat die Mutter damals geschenkt, geborgt oder sehr preiswert bekommen. Geduldig erklärt Margit Höltge der Frau: „Sie haben keinen akuten Bedarf mehr. Und nur den deckt Hartz IV ab.“

Gerechtigkeit ist nicht teilbar, heißt es gemeinhin. Aber Margit Höltge kommt am Teilen nicht vorbei. Sie hat während ihres Studiums gelernt: Zwei Männer streiten sich um eine Orange, beide wollen sie haben. Margit Höltge könnte sagen: Jeder bekommt eine Hälfte. Das wäre gerecht geteilt. Aber die Männer würden keinen Frieden geben, weil sie nicht zufrieden sind. Denn der eine braucht nur die Schale für einen Kuchen, der andere den Saft für ein Getränk. Margit Höltge würde entscheiden: Dem einen das Äußere, dem anderen das Innere. Das ist zwar nicht mehr gerecht geteilt, aber der Rechtsfrieden ist hergestellt. „Darum geht es“, sagt sie. Fernab jeglicher politischen Bewertung von Hartz IV.

Trotzdem könnte Margit Höltge manchmal verzweifeln. Darüber, wie uneinsichtig Menschen sein können, mit welcher Vehemenz sie Geld vom Staat fordern, das ihnen nicht zusteht. Wie im Verfahren S 8 AS 2139/06: Nancy Grundmann * verklagt das Jobcenter Berlin-Spandau auf Zahlung des Hartz-IV-Satzes. Die 22-jährige Industriekauffrau ist mit Anwalt und Zeugen gekommen. Margit Höltge hört zunächst die Klägerin: Nancy Grundmann ist arbeitslos, sie lebt im Haus ihrer Eltern und wird von diesen unterstützt.

„Zahlen Sie Miete und Kostgeld?“, fragt die Richterin. „Nein“, antwortet Nancy Grundmann, aufrecht sitzt sie auf ihrem Stuhl vor dem Richtertisch. „Ihre Mutter hat Ihnen 600 Euro gegeben, damit Sie Schulden bezahlen können?“, fragt Höltge. „Ja.“

Als erste Zeugin wird Mutter Grundmann * in den Raum gebeten. Margit Höltge will wissen: „Ihre Tochter kann sich immer und so oft sie will, etwas aus dem Kühlschrank nehmen?“ – „Ja, natürlich“, antwortet die 46-jährige Ordnungsamts-Mitarbeiterin. „Übernehmen Sie manchmal auch Ihre Handykosten?“ – „Sonst könnte sie ja gar nicht unterwegs sein.“ Das bestätigen schließlich noch der Vater, 49, Feuerwehrmann, und die Oma, 71, Rentnerin. Margit Höltge holt tief Luft und blickt die junge Klägerin an: „Sie bewohnen im Eigenheim Ihrer Eltern ein eigenes Zimmer. Sie können kommen und gehen, wann Sie wollen. Sie können essen, was und soviel Sie wollen. Ihre Mutter bezahlt Ihre Schulden. Der gemeinsame Nettoverdienst Ihrer Eltern beträgt 3.789 Euro, das reicht aus, Sie zu unterstützen. Dem Gesetz nach stehen Ihnen keine staatlichen Leistungen zu. Die Klage ist abgewiesen.“

Nancy Grundmanns Anwalt sagt: „Einspruch. Niemand kann sich entziehen, seinem Kind etwas zu essen zu geben.“ Margit Höltge erklärt, Hartz IV sei für den absoluten Notfall gedacht, für Menschen, die sich selbst nicht mehr helfen können. Die Klägerin habe das Glück, eine Familie zu haben, sie werde unterstützt, „auch wenn es den Eltern nicht leicht fällt“. Der Anwalt entgegnet: „Das machen Eltern so. Die Konsequenz wäre, die Tochter vor die Tür zu setzen.“

Mutter Grundmann springt auf, sie zischt: „Die jungen Menschen kriegen keine Jobs, Geld will man ihnen aber auch nicht geben. Das ist unfair.“ Die Mitarbeiterin des beklagten Jobcenters sagt: „Wir haben sehr großzügig berechnet, aber es bleibt einfach zu viel übrig.“ Sie spricht es nicht aus, aber man ahnt, was sie denkt: Mitnahmementalität.

Der Anwalt nimmt noch einen Anlauf: „Aber wie soll meine Mandantin am sozialen Leben teilnehmen …“ Margit Höltge lächelt kühl. Sie kann einen gewissen Unmut nicht mehr verbergen: „Wenn Sie nicht einverstanden sind, müssen Sie einen Antrag auf Weiterverfolgung stellen.“ Er stellt den Antrag.

* Name geändert