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Archiv-Artikel

Dem Seepferdchen ist nicht zu trauen

BADEBETRIEB Ein Viertel der BerlinerInnen können nicht schwimmen. Besonders bei Kindern unter zehn Jahren hat die Zahl rapide zugenommen. Grund ist laut DLRG das veränderte Freizeitverhalten: Computer sind halt angesagter als Sport

VON PLUTONIA PLARRE

Hunderte von Kindern, die bei der Hitze völlig aus dem Häuschen sind. Tanzende Köpfe im Wasser, so weit das Auge reicht. Wie gut, dass an den Seen derzeit wenigstens die Rettungsschwimmer den Überblick behalten. Einer von ihnen bewahrte am vergangenen Samstag am Tegeler See zwei Kinder vor dem Ertrinken. Für einen 35-jährigen Mann hingegen, der am gleichen Tag im Plötzensee gegenüber des Freibads ins Wasser gegangen war, kam jede Hilfe zu spät. Der Mann, der in Begleitung von mehreren Personen war, ging plötzlich unter – womöglich, weil er nicht richtig schwimmen konnte. Am Dienstag starb ein 77-Jähriger beim Baden im Scharmützelsee.

Ein Viertel der Berliner können nicht schwimmen, sagt der Sprecher des DLRG-Landesverbands, Frank Villmow. Bei den Kindern unter zehn Jahren seien es sogar die Hälfte.

Beängstigende Tendenz

Villmow spricht von einer beängstigenden Tendenz, die nicht nur in Berlin zu beobachten sei. „In den 80er Jahren konnten noch 95 Prozent der Kinder dieser Altergruppe schwimmen.“ Verantwortlich macht er dafür mehrere Dinge: Das Freizeitverhalten habe sich durch Computer und Handys grundlegend verändert. Körperliche Betätigung durch Sport habe bei Kindern und Jugendlichen keinen so großen Stellenwert mehr. Die Kinder hätten in der Schule zwar Schwimmunterricht, aber ihnen fehle die Übung.

Schwimmen können, darunter versteht Villmow Schwimmen „im Freiwasser“ – also in Seen, Flüssen und im Meer. „Unter erschwerten Bedingungen, bei Wellen und Strömungen.“ Die meisten Kinder machten nur das Seepferdchen. Um das zu bekommen, muss man 25 Meter ohne Pause schwimmen und einen Ring vom Boden holen können. „Den Frei- oder Fahrtenschwimmer machen die meisten gar nicht mehr“, klagt Villmow. Freischwimmer heißt: 15 Minuten am Stück schwimmen, Fahrtenschwimmer eine halbe Stunde.

200 Einsätze an Berliner Badeseen haben die ehrenamtlichen Mitarbeiter der DLRG allein am vergangenen Wochenende absolviert. Nicht alle waren so dramatisch wie der Fall, der sich am Samstag auf dem Tegeler See ereignet hat: Ein Rettungsschwimmer beobachtete, wie zwei Kinder, 3 und 8 Jahre alt, von einer Luftmatratze zu rutschen drohten. Beide konnten kaum oder gar nicht schwimmen. Der 3-Jährige trug zwar Schwimmflügel, drohte aber ins tiefe Wasser abzutreiben. Die Eltern hätten am Strand gesessen und nichts mitbekommen, beschreibt die DLRG das Szenario auf ihrer Homepage.

Die Eltern seien das Hauptproblem bei Gefahrenlagen, sagt Villmow. In Freiwassern sollten sie immer in Griffnähe ihrer Kinder stehen. „Schwimmen lernen ist die einzige Prävention gegen das Ertrinken.“ Der 49-jährige Villmow ist seit 1976 Rettungsschwimmer bei der DLRG. Er weiß, wie schnell der Ertrinkungstod eintritt: Ist der Kopf erst mal unter Wasser, komme die Hilfe meist zu spät. „Bei ‚Baywatch‘ werden zwar immer 90 Prozent gerettet“, sagt er über die US-Fernsehserie über Rettungsschwimmer in Malibu. In der Realität betrage die Überlebensrate aber nur 10 Prozent.

In Berlin wurden 2013 zehn Todesfälle durch Ertrinken verzeichnet. Ein Kind starb im Strandbad Lübars, einem Bad, das die Berliner Bäder Betriebe an einen privaten Betreiber verpachtet haben. Der verunglückte Junge konnte nicht schwimmen.

Die DLRG führt eine bundesweite Ertrinkungsstatistik. Von insgesamt 446 Menschen, die 2013 in Deutschland ertrunken sind, kam die Mehrzahl in Flüssen und Seen ums Leben. Bayern führt die Liste mit 90 Fällen an. „Bayern war schon immer im negativen Sinne Ertrinkungsland Nummer 1“, sagt der Sprecher des DLRG-Bundesverbands, Martin Janssen. Er führt das auf viele schwierige Gewässertypen und ein hohes Tourismusaufkommen zurück. Viele bayrische Seen seien zudem unbewacht.

In heißen Sommer ertrinken zumeist mehr Menschen. 2006, als die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland ausgetragen wurde, kamen bundesweit 606 Menschen im Wasser ums Leben. In Berlin waren es damals 18. Im Unterschied zu anderen Bundesländern werden die Badestellen an den Berliner Seen engmaschig von der DLRG überwacht. 300 bis 400 Ehrenamtliche betreuen 27 Stationen mit 45 Rettungsbooten. In der laufenden Saison wurden bereits 1.000 Einsätze gefahren.