„Das war der Boden für Tsingtaus Erfolg“

Seit fünfzehn Jahren erforscht der Geograf Wilhelm Matzat die Geschichte seiner Heimatstadt Tsingtau. Ein Gespräch über die Bodenreform-Bewegung und den chinesischen Silberblick auf die deutsche Kolonialzeit

Interview NIKE BREYER

Eine geerbtes Buch weckte vor einem halben Jahrhundert das Interesse Wilhelm Matzats für die Geschichte seiner chinesischen Heimatstadt und ein dort verwirklichtes historisch einmaliges Experiment: eine innovative Bodenordnung, die Spekulationen unterband und die Prosperität beförderte. Auf den Weg gebracht hatte es ein deutscher Beamter im Jahre 1898 – eine koloniale Hinterlassenschaft, über die das offizielle China nur off records spricht.

taz.mag: Herr Matzat, Sie wurden 1930 in Tsingtau geboren. Was hatte Ihre Eltern denn nach China verschlagen?

Wilhelm Matzat: Mein Vater wurde im Ersten Weltkrieg verwundet und noch während des Krieges als Missionar ausgebildet. Nach Kriegsende wurde er 1920 als Letzter noch in die Mission nach Tsingtau geschickt, da stand die Stadt aber schon unter japanischer Verwaltung. Ich war der jüngste von vier Söhnen. Die ersten sechzehn Jahre bin ich dort aufgewachsen und betrachte Tsingtau als meine Heimatstadt.

Seit 15 Jahren forschen Sie über deren Geschichte. Wie kam es überhaupt zur Gründung von Tsingtau?

Das Deutsche Reich hat den Hafen in der Kiautschou-Bucht im November 1894 besetzt. Das war, auch wenn es kampflos erfolgte und begünstigt war durch ein kurioses kulturelles Missverständnis, ganz klar ein kriegerischer Akt. Damals hieß es zwar, das sei nur vorübergehend, bis China die Sühneforderungen wegen zweier ermordeter Missionare erfüllt hätte. Aber das war natürlich ein Vorwand.

Kaiser Wilhelm wollte eine chinesische Kolonie.

Man wollte einen Stützpunkt für die kaiserliche Flotte, dann auch Eisenbahnerschließung des Innern, weil da die Kohlebergwerke waren. Die Schiffe fuhren damals ja mit Kohle. Man brauchte also Kohlestationen. Vielleicht wollte man auch einen Stützpunkt für den deutschen Handel. Die anderen Großmächte hatten ja alle schon Stützpunkte da unten. Das Deutsche Reich hatte lange versucht, per Vertrag einen zu bekommen. Aber die chinesische Regierung war nicht bereit, an Deutschland zu verpachten. Da haben die Deutschen es dann erzwungen. Nachdem der Küstenpunkt besetzt war, haben die Chinesen am 6. März 1898 dem Pachtvertrag auf neunundneunzig Jahre zugestimmt. Der war natürlich Makulatur, als die Japaner 1914 Tsingtau eroberten.

In China pflegt man, soweit ich das überblicke, offenbar situativ angepasste Formen des Erinnerns. Auf der einen Seite zeichnet man die Deutschen – sozusagen in klassischer KP-Manier – als Kapitalisten, Imperialisten und Ausbeuter. In anderer Umgebung erkennt man jedoch auch gewisse „Kollateralnutzen“ der deutschen Kolonialherrschaft an.

Meinen Sie in Peking oder in Tsingtau? Die Kinder in Tsingtau wissen ja nicht einmal, dass die Stadt von den Deutschen gegründet ist. Natürlich sind auch alle Denkmäler längst beseitigt. Aus der Zeit vor 1949 ist der europäische Friedhof – meine Eltern liegen da begraben – total abgeräumt worden, allerdings erst in der Kulturrevolution. Die heutigen Chinesen machen es sich etwas leicht, wenn sie immer sagen: Jaja, das war die Kulturrevolution. Manches ist lange vorher zerstört worden.

Bei Ihren Forschungen machten Sie und der Architekt Torsten Warner in Tsingtau Ende der 80er-Jahre einen spektakulären Fund.

Ja, auf dem Speicher der örtlichen Baubehörde fand Warner originale Akten aus der Zeit der deutschen Kolonialherrschaft, die dort vermutlich seit hundert Jahren unberührt im Dornröschenschlaf lagen. Darunter befand sich auch der handschriftliche erste Entwurf der berühmten „Bodenordnung von Tsingtau“ aus dem Jahr 1898.

Eine ausgeklügelte Steuerregelung, mit der der Tsingtauer Kommissar Wilhelm Schrameier ungezügelte Immobilienspekulationen verhinderte. Wie sind Sie auf die Akten gestoßen?

Meine Reise fiel in die letzte Zeit, in der ich als Professor für Geografie in Bonn tätig war. Torsten Warner studierte damals Architektur in Wien. Nach einer Chinareise 1988/89 war er so beeindruckt von Schanghai, Tsingtau und der deutschen Architektur, die damals noch zahlreich erhalten war, dass er beschloss, eine Doktorarbeit darüber zu schreiben. Dabei stieß er auch auf meine Publikationen, und wir trafen uns in China. Warner wollte die Tsingtau-Architektur studieren, also ging er in die dortige Baubehörde und fragte nach den Grundrissen der alten deutschen Gebäude. Das war das erste Mal, dass da ein Ausländer ankam. Warner sprach zwar furchtbares Chinesisch, aber die Leute haben ihn trotzdem verstanden. Dann hieß es: Ach so, es geht um die Altstadtgebäude. Da haben wir hier nichts. Aber oben lägen so alte Säcke rum, die könne er anschauen. Dann hat Warner die runtergebracht, zehn oder zwölf, die seit 1914 wahrscheinlich überhaupt zum ersten Mal wieder geöffnet wurden. Das war natürlich ein wahnsinniger Staub, hat Warner gesagt.

Unter Mandarin-Talaren der Aktenstaub von hundert Jahren …

Was toll war, er durfte auch kopieren. Und die Riesenüberraschung: Unter den Unterlagen befand sich auch das Originalmanuskript der Tsingtauer Bodenordnung von Schrameier.

Heureka!

Da hab ich natürlich gesagt: Her damit, auch für mich eine Kopie! Ich hab das dann veröffentlicht (hebt das Buch hoch), hier, eine Seite als Faksimile.

Das ist altdeutsche Schreibschrift. Konnten Sie das lesen?

Am Ende habe ich alles entziffert. Warner durfte die Kopien dann aber nicht mitnehmen. Ich habe ihn gefragt, wie er die Sachen nach Deutschland zu schaffen gedenke. Das musste doch durch den chinesischen Zoll. Wenn die Leute dort die ganzen Karten und Grundrisse sähen …

könnten sie das für Spionagematerial oder terroristische Pläne halten.

Na klar. Ich hab ihm empfohlen, das Material über die deutsche Botschaft als Diplomatenpost zu schicken. Weil er gute Beziehungen zum Generalkonsul in Schanghai hatte, konnte er die tatsächlich überreden. Ich hab die Sachen später in Deutschland abgeholt.

Sie hatten aber schon vor dem Fund von Schrameier gehört?

Ja, über meinen Onkel, einen Theologieprofessor. Aus seinem Erbe erhielt ich ein Widmungsexemplar der Lebenserinnerungen von Adolf Damaschke. Dessen Tochter hatte bei meinem Onkel Vorlesungen gehört, an der Universität Berlin. Damaschke war ein Lebens- und Bodenreformer, der sich im Kaiserreich für Genossenschaftssiedlungen und gegen sogenanntes arbeitsfreies Einkommen aus privatem Bodenbesitz engagierte. In dem Buch stieß ich auf die Bodenreform und den Namen Wilhelm Schrameier. Damaschke war wahnsinnig populär damals.

Mir ist der Name nur von Straßenschildern bekannt …

Das ist geblieben. 1919 hat Damaschke mit Unterstützung von Friedrich Naumann sogar einen Paragrafen zur Bodenordnung in die Weimarer Reichsverfassung einbringen können. Unter anderem heißt es darin: „Die Wertsteigerung des Bodens, die ohne Arbeits- und Kapitalaufwendung auf das Grundstück entsteht, ist für die Gesamtheit nutzbar zu machen.“

Um 1900 haben sich offenbar viele fortschrittliche Köpfe mit der sogenannten Bodenfrage beschäftigt.

Das kam durch die Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als mit Entstehung industrieller Ballungszentren auch der Bodenwert stieg und Boden- und Immobilienspekulationen einsetzten. Als die Bodenpreise um bis zu 30 Prozent gestiegen waren, konnten tausende Berliner Arbeiter quasi über Nacht ihre Mieten nicht mehr bezahlen, wurden obdachlos und stürzten in die Armut.

Als Pionier und „Vater der Bodenreform“ gilt eigentlich der Amerikaner Henry George …

Mit Einschränkung. Als Schrameier 1898 die Landordnung von Tsingtau entwarf, wusste er nichts von Henry George. Das hat er mehrfach betont. Er kam ja schon 1885 nach China, wo er zunächst drei Jahre Chinesisch gelernt hat. 1888 wurde er als Dolmetscher im Konsulatsdienst eingesetzt, in Kanton, Tschifu, Hongkong. Vor allem in Hongkong konnte er sehen, wie die Engländer ihre Kolonie organisierten. Das hatte auch negative Aspekte. Als Chefdolmetscher war er dann auch am Generalkonsulat von Schanghai tätig, dem Dorado der Bodenspekulation. Da hat er gemerkt, in Tsingtau dürfen wir das nicht wiederholen.

Mit dem Boden zu spekulieren …?

Sein Hauptmotiv war Folgendes: Er sagte, wir stehen in Konkurrenz zu einer Zahl anderer Vertragshäfen. Damit die junge Siedlung Tsingtau sich überhaupt entwickelt, damit überhaupt jemand kommt und da investiert, müssen wir dafür sorgen, dass Grund und Boden billig bleibt. Das verschafft uns Wettbewerbsvorteile.

Hatte Schrameier Volkswirtschaft studiert?

Nein, Theologie und orientalische Sprachen, wie das damals hieß, also Türkisch und Arabisch. Promoviert hat er in Arabistik. Danach wollte er wahrscheinlich doch nicht Pfarrer werden. Nach dem zweiten theologischen Examen hat er beim Auswärtigen Amt angefragt, ob sie einen Dolmetscher gebrauchen könnten. Sie konnten. Also hat er sich für den Dolmetscherdienst entschieden. Er war ein Workaholic, würde man heute sagen. Er wurde nach Peking geschickt, machte dort erste Schreibarbeiten und wird unter Hochdampf Chinesisch gelernt haben.

Soweit ich es verstehe, gibt es verschiedene Varianten der Bodenreform. Die eine geht von Grund und Boden in Gemeinbesitz aus, auf den Nutzungsrechte über Pachtverträge vergeben werden. Eine andere bleibt wie im Falle Tsingtaus beim Boden in Privateigentum, besteuert diesen aber und erhebt im Verkaufsfall eine sogenannte Bodenwertzuwachssteuer von rund 30 Prozent, die den Wertzuwachs des Bodens abschöpft und damit Spekulationen uninteressant macht.

Dabei muss man Folgendes beachten: 1898 spricht Schrameier in seiner „Landordnung von Tsingtau“ von Grundsteuer. Das ist missverständlich, weil es nach heutigem Verständnis die Gebäude einschließt. Richtiger müsste man von Bodenwertsteuer sprechen, die nur den „nackten Boden“ besteuert, wie Damaschke das genannt hat.

Halten Sie die Bodenreform nach Schrameier für ein heute noch brauchbares Konzept?

So gut kenne ich mich damit gar nicht aus. Ich habe aber erlebt, dass die genannte Bodenwertzuwachssteuer auch bei Fachleuten umstritten ist. Einige finden das gar nicht so besonders toll.

Die ist doch gerade der Clou!

Bei den Ökonomen gibt es Schulen, die das nicht empfehlen. Anhänger des 1930 gestorbenen Sozialreformers Silvio Gesell und seines Konzepts „Freiland“ und „Freilandwirtschaft“ gehen von Grund und Boden in Gemeinschaftseigentum aus. Eine Wertzuwachssteuer entfällt in diesem Fall also. Wieder andere plädieren für die single tax, die nur den Bodenwert besteuert. Das ist das alte Konzept von Henry George, und auch das kommt ohne Wertzuwachssteuer aus. Da gibt es also sehr verschiedene Richtungen.

Bei der single tax werden 6 Prozent vom Bodenwert jährlich abgeschöpft, richtig?

Ich weiß nicht, wie das bei Henry George war. Schrameier hat ja von George nichts gewusst. Erst Adolf Damaschke und der Bund der Bodenreformer haben Schrameier dann in ihren Publikationen so hochgejubelt. Damaschke war hier überaus rührig, der Bund hatte über 100.000 Mitglieder. Ähnlich wie auch Tirpitz ein Meister der PR war und es letztlich beim Kaiser durchsetzte, dass die Verwaltung von Kiautschou nicht dem Kolonialamt, sondern dem Reichsmarineamt unterstellt wurde.

Was hatte nun wieder der Großadmiral mit der Bodenreform zu tun?

Von Tirpitz war als Kommandant der ostasiatischen Kreuzerdivision zuvor in Ostasien unterwegs gewesen und hatte in Schanghai die Entwicklung der Bodenspekulation miterlebt. Die Marineoffiziere, die überall in den Häfen herumkamen, in Kanton, Hongkong, Schanghai, kriegten hautnah mit, wie das da ökonomisch lief. Deswegen hat Tirpitz, der 1897 zum Staatssekretär des Reichsmarineamts ernannt wurde, Schrameier von Anfang an unterstützt in seinem Bestreben, die Bodenspekulation in Tsingtau auszubremsen. Natürlich sollte sich Tsingtau irgendwann selbst finanzieren und nicht nur vom Deutschen Reich quasi ausgehalten werden, nachdem in den ersten zehn Jahren über hundert Millionen Reichsmark an Zuschüssen in das Prestigeprojekt deutscher Kolonialpolitik geflossen waren. Nach dem ersten Entwurf der Schrameier’schen Steuerordnung sollte Schrameier – darüber besteht gar kein Zweifel – zur Bodensteuer auch Gewerbesteuer erheben. Als ich das im Originalmanuskript sah, war mir klar, dass das geradezu unvereinbar ist mit Henry George und der single tax. Nach Diskussionen mit dem Gouverneur hat Schrameier das dann gestrichen.

Zugunsten der alleinigen Bodenwertsteuer.

Richtig. Übrigens war Henry George Rassist und ganz antichinesisch eingestellt. Er hat die Chinesen in Kalifornien erlebt und meinte, dass das eine Spezies Mensch sei, vor der man sich vorsehen müsse. Damit spricht er ein uraltes Problem an, das auch heute aktuell ist. Er sagte, die Chinesen seien nicht bereit, sich zu integrieren.

Das Prinzip China Town New York?

Oder San Francisco. An der Westküste kamen sie ja immer an. Henry George schreibt weiter, die Chinesen seien verlogen, feige und Ähnliches mehr.

Lassen Sie uns noch einmal zurückkommen auf Schrameiers Pläne, Handel und Gewerbe zu besteuern.

Aber da gab es noch kein Gewerbe! Das war also sinnlos. Das Einzige, was es gab, war Grund und Boden. Die Bodenwertsteuer war von Schrameier daher ursprünglich nur als Provisorium gedacht. Das Ulkige ist nun: Die deutschen Kaufleute, die da ankamen, waren darüber entsetzt und wütend auf Schrameier. Es gab ja schon deutsche Firmen in China. Die saßen etwa in Tiensien und Schanghai. Schon im März 1898 kamen die da an, und alle wollten gleich Häuser bauen. Da hat Schrameier gebremst und verlangt, dass erst einmal die Straßen abgesteckt werden. Ein Bauplan sollte entwickelt werden. Daraufhin waren sie so in Rage, dass sie einen Journalisten vom Berliner Tageblatt angespitzt haben, damit er eine polemische Kritik verfasste. Die wiederum schockierte Tirpitz so, dass er den Gouverneur Carl Rosendahl – die Gouverneure waren immer Marineoffiziere – abgesetzt hat …

Wegen dieses Tageblatt -Artikels?

Ja. Der Journalist war ein Reiseschriftsteller namens Eugen Wolf. Der schrieb damals regelmäßig seine Berichte aus Afrika und so weiter. Als der zufällig in Peking war, haben die Kaufleute dem was vorgejammert. Darauf hat er seinen Artikel geschrieben, der darin gipfelte, dass die Marine nicht fähig sei, eine Kolonie zu leiten. Da müssten Verwaltungsfachleute her.

Wer waren diese Kaufleute?

Export, Import, das Übliche. Die handelten mit Häuten, Fellen, Chinakohl, Erdnüssen, Haaren und solche Sachen, also tierisch-animalischer oder auch vegetarischer Produktion. Wir wissen, dass die Kaufleute da gestänkert haben, das geht aus den Berichten hervor.

Der Zorn richtete sich gegen das Verbot, dort sofort Grundstücke zu erwerben und Häuser zu bauen, und gegen die Bodenordnung?

Eugen Wolf wollte Schrameier als den dafür Verantwortlichen abschießen, nicht wahr. Aber der war unersetzlich. Er hatte die ganzen Verkaufsverhandlungen geführt, den Aufkauf der Parzellen organisiert. Die mussten den Bauern dort abgekauft werden. Den Gouverneur, die Offiziere – die konnte man jederzeit absetzen und neue schicken. Aber einen Kenner der Chinesen und der chinesischen Sprache wie Schrameier konnte man nicht ersetzen.

Erwin Wickert, der Vater von Ulrich Wickert, der 1976 bis 1980 deutscher Botschafter in Peking war, gab einmal folgende Begebenheit zum Besten: In den späten Siebzigerjahren begleitete er Fang Yi, einen engen Mitarbeiter Deng Xiao Pings, auf einer Deutschlandreise. Dabei habe Fang Yi Wickert gefragt, ob man nicht eine Partnerschaft zwischen Deutschland und der Provinz Shandong, in der Tsingtau liegt, schaffen könne. Auf Wickerts Erstaunen habe Fang Yi geantwortet: Warum nicht, in Shandong richte man sich noch heute nach deutschen Arbeitsnormen. Die Deutschen hätten zahlreiche Schulen und eine chinesische Hochschule errichtet und ein vorzügliches Eisenbahnnetz hinterlassen. Ganz besonders habe die Chinesen die Bodenreform beeindruckt, mit der die Deutschen kapitalistische Immobilienspekulationen unterbunden hätten.

Das dürfte er im Privatgespräch gesagt haben, off records. Die offizielle Sicht der Volksrepublik China unterscheidet natürlich nicht zwischen dem für die Deutschen unrühmlichen Erwerb der Bucht von Kiautschou als „Pachtgebiet“ und der weiteren Entwicklung, die auf die Errichtung einer aufwendig gestalteten Musterkolonie hinauslief. In offiziellen Stellungnahmen sind die Deutschen Imperialisten, Faschisten, die ungleiche Verträge erzwangen usw. In einer chinesischen Zeitung würde Fang Yis Äußerung so kaum gedruckt.

Wickerts Erlebnis ist also doch die Ausnahme?

Denke ich, obwohl es jetzt in Tsingtau einen Zirkel von Chinesen gibt, die sich zunehmend für die Stadtgeschichte interessieren und als wesentlichen Teil auch für die deutsche Kolonialzeit.

Auch für die Bodenreform?

Weniger. Die Herangehensweise ist ästhetisch. Die Gebäude, die Architektur, das ist exotisch und spannend für sie. Faszinierend finde ich übrigens, dass es die Bodenreform, wie sie in Tsingtau praktiziert wurde, in Taiwan noch heute gibt. Als die Kuomintang 1927 an die Macht kam, hat das Parlament 1930 das große Bodengesetz beschlossen. Das sollte nach fünf Jahren in Kraft treten. Aber dann ist es in China infolge des Kriegs mit Japan und des Bürgerkriegs nicht mehr zur Anwendung gekommen. Dadurch wurde das Bodengesetz dann zuerst in Taiwan verwirklicht, und darin leben viele Elemente der Schrameier’schen Landordnung von Tsingtau bis zum heutigen Tage fort.

Nach dem Vorbild von Tsingtau?

Genau. Der chinesische Reformpolitiker Sun Yat-sen war ein Bewunderer von Schrameier. Nach der Eroberung Tsingtaus durch die Japaner 1914 hat er ihn als Berater nach Schanghai geholt. Schon 1912 sagte er in einem Interview: „Tsingtau hat mir ganz außerordentlich gefallen, es ist die Modellanlage einer Stadt für das künftige China, und wenn aus jedem unserer 500 Kreise auch nur zehn Menschen nach Tsingtau gehen würden, um seine Verwaltung, seine Stadt- und Landstraßen, die prächtige Werft, den Hafen, die Hochschule, die Forstanlagen, die städtischen und Regierungsanlagen zu studieren, so könnte damit für China unendlich viel Gutes geschaffen werden.“

In Taiwan hat man vor Einführung der neuen Bodensteuerordnung eine Agrarreform durchgeführt.

Das ist entscheidend. Das passierte, gleich nachdem sich die Kuomintang endgültig etabliert hatten. Als Tschiang Kai-tschek der Nachfolger Sun Yat-sens als Chef der Kuomintang nach der Gründung der KP-China 1949 fliehen musste, ging er nach Taiwan.

Dort hielt sich die Kuomintang.

Im Prinzip bis heute. In den 1950er-Jahren hat man dann mit der Agrarreform begonnen. Die Situation, die die Kuomintang vorfand, sah so aus, dass die Bauern zum großen Teil nicht Eigentümer des Bodens waren. Städtische Großgrundbesitzer verpachteten das Land an die Bauern, zu einem meist sehr hohen Pachtschilling. Der Erfolg von Mao Tse-tung beruhte letztlich darauf, dass er die Bauernmassen mobilisierte und gegen die Stadt und die Städter geführt hat. Bei den Kommunisten war das Ziel Kollektivierung, also Abschaffung des Privateigentums. Die Kuomintang vertraten die umgekehrte Position, also „Das Land dem Bebauer“.

Was treibt Sie, weiterzuforschen?

(zögert): Ich bin immer für Erinnerung. Das Eigentümliche ist, dass ich seit zwei Jahren Kontakt mit Chinesen habe, die sich interessieren. Wir tauschen ständig E-Mails aus. Wang, ein Tsingtau-Chinese, mit dem ich einen besonders angeregten Austauch habe, veröffentlicht das dann auch. Jede Woche erscheint in der Lokalzeitung ein Artikel zur Geschichte Tsingtaus.

Er ist Historiker?

Gar nicht mal. Mein Gesprächspartner ist Angestellter bei einer städtischen Institution, arbeitet aber mit den Leuten vom Tsingtau-Stadtarchiv zusammen. Übrigens hat sich jetzt auch ein reicher Chinese gemeldet, der möchte Herrn Wang nach Deutschland schicken, damit er hier Tsingtau-Antiquitäten aufkauft. Der hat so die Vorstellung, dass man alte Knöpfe oder Schals oder Mützen oder Helme oder Brustpanzer (lacht) vom Dritten Seebataillon oder weiß der Kuckuck was hier findet. Der will vielleicht sein Geld anlegen und spekuliert darauf, dass diese Sachen später noch wertvoll werden.

Scheint so. Der chinesische Publizist und Kulturkritiker Zhu Dake mutmaßte neulich in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen, so richtig ernst nähmen die Chinesen vielleicht nur das Geld.

Folklore, darauf läuft die Erinnerung an die deutsche Zeit in Tsingtau am Ende hinaus.

NIKE BREYER, geboren 1955, lebt als freie Autorin in Marburg