: Meet the people!
„Tourismus funktioniert nur dann gut, wenn auch die Leute in den Ländern, die wir bereisen, damit klarkommen.“ Ein Plädoyer für neue Einsichten gegen alte Vorurteile und Klischees auf Reisen
INTERVIEW EDITH KRESTAUND GÜNTER ERMLICH
taz: Herr Vielhaber, der Studienkreis für Tourismus und Entwicklung engagiert sich für einen Tourismus mit Einsicht und Moral. Warum?
Armin Vielhaber: Dem Studienkreis geht es um Tourismusentwicklung, die eine Win-win-win-Situation anstrebt, bei der alle profitieren: die Urlauber, die Menschen in den Destinationen und die Touristikunternehmen dort wie hier. Letztlich geht es um nachhaltigen Tourismus: einen ökologisch verträglicheren, sozial verantwortlichen und wirtschaftlich langfristig ergiebigen. Ein Schwerpunkt unserer Arbeit liegt darin, den Tourismus intensiver als ein Medium interkulturellen Lernens zu nutzen.
Wie funktioniert das?
Bei Urlaubsreisen ins Ausland kann man neue Einsichten über Land und Leute gewinnen, ein paar Klischees und Vorurteile korrigieren. Die Chancen dafür steigen rapide, wenn erstens bereits vor Reiseantritt ein Interesse da ist, während des Urlaubs auch ein Stück Alltagsrealität des Gastlandes kennen zu lernen und dabei Einheimischen zu begegnen. Wenn zweitens dieser Begegnungswunsch realisiert wird. Und wenn drittens der Gast das Glück hat, im Urlaub von einer Reiseleitung betreut zu werden, die motiviert und fähig ist, nicht nur touristische Sehenswürdigkeiten zu zeigen, sondern auch aktiv Kulturvermittlung zu betreiben.
Was heißt Kulturvermittlung im touristischen Kontext?
Sie soll Menschen im Urlaub befähigen, Fremdes ohne voreilige, übertriebene Wertungen aufgeschlossen wahrzunehmen und darüber mit anderen Menschen zu reden. Dabei muss man sein Weltbild nicht unbedingt auf den Kopf stellen, man kann es aber differenzieren.
Haben Touristen denn überhaupt Interesse an Land und Leuten?
Unter deutschen Entwicklungsländer-Urlaubern sind ganze 20 Prozent definitiv nicht interessiert. Sie wollen unter Palmen am Strand oder am Swimming-Pool liegen und ihre Ruhe haben. Die übrigen sind aber – so die Ergebnisse unserer Marktforschung – ansprechbar auf ein mehr oder weniger intensives Kennenlernen von Land und Leuten.
Warum sollen aber Reisekonzerne, die nur auf Profite und den Shareholder-Value schielen, Interesse an interkulturellem Lernen und Verständigung haben?
Touristikunternehmen haben allen Grund, bei ihren Urlaubern ein besseres Verständnis für die Destinationen und ihre Menschen zu befördern. Differenzierte Urlaubserfahrungen und Landeskenntnisse schaffen mehr Durchblick, erhöhen die Urteilsfähigkeit in schwierigen Zeiten – wie etwa seit dem 11. September. Wer Land und Leute besser kennt und sich auch deshalb im Urlaub dort wohl fühlt, kommt gerne wieder. Hohe Wiederholerquoten schaffen Stabilität. Tourismus funktioniert nur dann gut, wenn auch die Leute in den Ländern, die wir bereisen, damit klarkommen. In der Vergangenheit war das nicht immer der Fall.
Wo denn?
Eines der ersten Beispiele war Jamaika während der Regierungszeit von Michael Manley. Damals fanden die Einheimischen, dass die überwiegend amerikanischen Urlauber ihr Land nur als Badewanne benutzten und ansonsten kein Interesse an ihrem Land hatten. Das wurde zum Problem, als die Gäste merkten, dass die Einheimischen nicht mehr so gastfreundlich waren. Die jamaikanische Regierung reagierte schnell und machte eine bevölkerungsrepräsentative Befragung zum Thema Tourismus. Tourismusentwicklung wurde öffentlich diskutiert. Das war die Geburtsstunde des sogenannten „Meet the people“-Programms.
Wie funktioniert das Programm?
Man versucht, an Begegnung interessierte ausländische Besucher mit Einheimischen zusammenzubringen – auf der Basis gleicher beruflicher Erfahrungen und Freizeitinteressen. Ein deutscher Badeurlauber und Hobbymusiker kann z. B. einen jamaikanischen Musiker treffen, eine amerikanische Krankenschwester ihre einheimische Kollegin. Beide können sich über Dinge austauschen, von denen sie etwas verstehen, und Neues hinzulernen. Der positive Multiplikatoreffekt davon ist nicht zu unterschätzen.
Wie multipliziert sich denn diese Begegnung?
Es sind die ganz persönlichen Begegnungs-Erfahrungen, von denen die Urlauber – aber auch die Einheimischen – anschließend ihren Freunden, Nachbarn und Arbeitskollegen erzählen. Diesen Nutzen sieht auch die Hälfte der kürzlich von uns befragten 52 deutschen Reiseveranstalter. Aus ihrer Sicht sollte es in möglichst vielen anderen Entwicklungsländern solche Begegnungsprogramme geben. Man wäre bereit, aktiv darauf aufmerksam zu machen – in den Katalogen und über die Reiseleitung. Allein unter deutschen Fernreisenden wären derzeit etwa 700.000 pro Jahr für „Meet the people“ ansprechbar.
Leute treffen ist ja nett, aber ist die wirtschaftliche und soziale Partizipation der Leute, die im Tourismus arbeiten, nicht genauso wichtig?
Ja, denn im Zeitalter von „billig“ und „noch billiger“ besteht die Gefahr, dass die Qualität touristischer Dienstleistungen abnimmt, wenn überall gespart wird – etwa an den Löhnen oder an der Ausbildung. Wenn die Arbeitsmotivation sinkt, steigt die Fluktuation in den touristischen Berufen. Der Gast merkt das: Die Servicequalität geht runter. Das möglicherweise gute Image der Destination steht dann auf dem Spiel.
Das heißt, die Tourismusindustrie hier bei uns muss sich aus Geschäftsinteresse um solche Werte kümmern?
Ja klar, das ist in ihrem eigenen Interesse. Urlaub findet schließlich in den Destinationen statt. Und: Urlaub ist mehr als das Bett der Badehotels. Das sollten auch die Verantwortlichen in den Destinationen berücksichtigen: die politischen und touristischen Entscheidungsträger.
Hat sich Tourismus in Entwicklungsländern nicht selten mehr oder weniger ungeplant „ereignet“?
Das Hauptkriterium ist häufig: möglichst schnell möglichst viele Urlauber zu bekommen und dafür Hotelbetten bereitzustellen. Wenn dann ein erfahrener einheimischer Hotelier zu dem Ergebnis kommt: „Wir holen die Gäste am Flughafen ab, bringen sie ins Hotel und behalten sie dort, bis wir sie wieder am Flughafen abliefern“, dann sagt das einiges.
War denn früher alles besser?
Im Badetourismus scheint heute eher die Gewährleistung technischer Abläufe zu dominieren, das optimale Zusammenbauen unterschiedlicher Produktbestandteile wie Flug, Transfer, Hotel vor Ort. Es geht um einen möglichst reibungslosen Ablauf der Reise, weniger um deren Inhalte. Und es geht um den Preis. Die Hälfte der von uns befragten Reiseveranstalter sieht beim Entwicklungsländer-Tourismus die größte Herausforderung in einer Produktgestaltung, die die vielfältigen Wünsche und Ansprüche der Urlauber berücksichtigt, sowie in der Aufrechterhaltung von Qualitätsstandards vor dem Hintergrund des Preisdrucks.
„Tourismus ist wie ein Feuer: Man kann seine Suppe damit kochen, man kann aber auch sein Haus damit abbrennen.“ Diese asiatische Weisheit ist das Motto des Studienkreises. Was will uns das sagen?
Das bedeutet: Im Tourismus geht nicht alles automatisch gut. Man weiß am Anfang nicht immer, was am Ende rauskommt. Ein kleines Beispiel in Sachen Partizipation, das mir in der Türkei erzählt wurde: Die Regierung von Ministerpräsident Turgut Özal wollte in den 80er-Jahren die Region Belek touristisch entwickeln. Damals war dort nur ein Sumpfgebiet. Özal kam nach Belek, hatte die Bevölkerung der Umgebung eingeladen. Er erläuterte das Vorhaben und bat die Leute mitzumachen. Jeder sollte eine Pinie pflanzen mit der Option, das so begrünte Gebiet später auch als Freizeitmöglichkeit mit zu nutzen. Die Leute haben es gemacht.
Und wie sieht es heute dort aus?
Die Pinien sind da, große Urlaubsanlagen und Golfplätze ebenfalls – aber weitgehend eingezäunt.
Der Studienkreis veranstaltet seit 1995 jedes Jahr den internationalen „To do!“-Wettbewerb für sozialverantwortlichen Tourismus. Dabei werden tourismusrelevante Projekte ausgezeichnet, die die Interessen und Bedürfnisse der ortsansässigen Bevölkerung durch Partizipation sicherstellen. Was passiert mit diesen Projekten, wenn sie nach der Prämierung wieder aus dem Rampenlicht raus sind?
Für die meisten kleineren Projekte ist die erfolgreiche Vermarktung eine zentrale Herausforderung. Da gibt es sicher Bedarf an Beratung und Begleitung. Das ist aber nicht die Aufgabe des Wettbewerbsveranstalters. Der prüft die eingereichten Bewerbungen. Die Jury trifft eine Vorentscheidung für potenzielle Preisträger. Die werden dann vor Ort von unseren Gutachtern sorgfältig gecheckt. Dabei kann man im Zweifelsfall auch durchfallen. Der „To do!“-Preis würdigt also das Ergebnis einer Momentaufnahme. Er ist kein Qualitätslabel, das immer wieder neu überprüft wird.
In der Selbstdarstellung des Studienkreises heißt es: „Wir arbeiten an Themen und Konfliktfeldern touristischer Entwicklung.“ Welche sind das?
Im Rahmen unserer jährlichen „Ammerlander Gespräche“ mit Touristikmanagern und Medienvertretern diskutieren wir aktuelle Themen. In diesem Jahr ging es zum Beispiel um das Selbstverständnis der Reiseveranstalter zwischen Imagewerbung und politischer Abstinenz. Wir geben aber auch eine Magazinreihe heraus zur Verständniswerbung für fremde Länder, Kulturen und Spezialthemen wie etwa Weltreligionen, Umwelt, Globalisierung. Und: Wir veranstalten weltweit interkulturelle Trainingsseminare, mit denen wir Reiseleiter in Entwicklungsländern motivieren und befähigen wollen, Brückenbauer zu sein zwischen der Kultur ihres eigenen Landes und der der Urlauber. Wir haben bereits über 100 solcher Seminare durchgeführt. Seit dem 11. September 2001 verstärkt in islamisch geprägten Ländern des Mittelmeerraums – etwa in Ägypten, Jordanien, Jemen, Syrien oder in der Türkei.
Wer kauft die Sympathiemagazine?
Viele Reiseveranstalter erwerben sie und schenken sie ihren Kunden im Rahmen einer Urlaubsbuchung. Aber sie werden auch zunehmend von anderen Wirtschaftsunternehmen bezogen – etwa für die Vorbereitung ihrer Mitarbeiter auf den Auslandseinsatz. Auch in der Jugend- und Erwachsenenbildung werden sie genutzt. Von den inzwischen 63 Magazinen sind derzeit 49 Länder- und Themenmagazine verfügbar. Die Gesamtauflage liegt bei 6,4 Millionen.
Fällt es dem Studienkreis schwer, für bestimmte Länder um Sympathie zu werben, etwa für das repressive Tunesien?
Wir werben für das Interesse am Alltag der Menschen – nicht für Regierungen oder gar Regime.
Ist das Werben um Sympathie und Verständnis für fremde Kulturen nach den Kriegen und Konflikten der letzten Jahre, nach den Terroranschlägen in Urlaubsgebieten und dem 11. September nicht viel schwerer geworden?
Das Interesse ist eher gestiegen. Wir haben das ganz deutlich beim Absatz unseres Magazins „Islam verstehen“ gemerkt. Das Interesse ist anhaltend gut – auch das für Hefte über islamisch geprägte Urlaubsländer. Auch die Medien haben sich ja dieser Thematik verstärkt angenommen, konzentrieren sich dabei aber eher auf außerordentliche Ereignisse. Die Bilder von jubelnden Anhängern des iranischen Präsidenten vermitteln nur einen kleinen Teil der iranischen Wirklichkeit.
Welche Wirklichkeit wollen Sie zeigen?
Der ganz normale, vielleicht unspektakuläre, aber trotzdem interessante Alltag der Menschen kommt häufig zu kurz, vor allem auch in den Katalogen der Veranstalter.
Wie kann der Studienkreis denn der Macht der Bilder und ihrer Ausschnitthaftigkeit in puncto Tourismus trotzen?
2005 haben allein 5,3 Millionen Deutsche ihre Haupturlaubsreise in islamisch geprägte Länder des Mittelmeerraums unternommen. Die meisten Reiseleiterinnen und Reiseleiter, auf die sie treffen, sind Moslems. Sie leben dort, hätten eigentlich die besten Voraussetzungen, den Touristen einfühlsame, kompetente Einblicke zu vermitteln. Viele Tour-Guides haben zudem lange in Deutschland gelebt, nicht selten studiert und arbeiten seit ihrer Rückkehr im Tourismus. Wir versuchen, sie zu gewinnen, ihnen zu helfen, ihre tatsächlichen und potenziellen Stärken methodisch überzeugend und kreativ zu nutzen.
Ist der Studienkreis die letzte Instanz zum Abbau von Vorurteilen im Tourismus?
Nein. Am Abbau von Vorurteilen und Klischees über Fremdes arbeiten nicht nur wir. Albert Einstein hat überspitzt gesagt: Es ist leichter ein Atom zu spalten, als ein Vorurteil zu knacken. Unsere Arbeit ist auch ein Kampf gegen Schubladendenken. Aber es gibt Chancen. Diese Überzeugung habe ich seit mehr als 35 Jahren.
Wie sind Sie denn zum Thema Tourismus gekommen?
Mitte der Sechzigerjahre hatte ich meine ersten intensiven Reiseerfahrungen in Entwicklungsländern, und zwar in Asien. Der entscheidende Kick kam Anfang der 70er-Jahre: durch Max Frisch und sein Lehrstück Andorra. Darin geht es bekanntermaßen um die mörderische Wirkung von Vorurteilen. In der Sekundärliteratur las ich, man könne nur darauf hoffen, dass durch die steigende Zahl von Reisenden – insbesondere der jungen Leute – nationale Vorurteile abgebaut werden. Das war meine persönliche Initialzündung zur Beschäftigung mit dem Thema Tourismus.