: Mikrohistorie am Objekt
■ Merkwürdiger Titel, schöne Ausstellung: „Das k. k. Nationalfabriksproduktenkabinett“
Glasaugen aus Venedig, galvano-plastisch versilberte Früchte und Hunderte Dinge mehr liegen in den Vitrinen: eine faszinierende Ansammlung. Eigentlich sollte ein Ausstellungsbericht nicht mit einem so direkten Lob beginnen.
Aber ist nicht zu befürchten, Sie lesen nicht weiter, wenn der Ausstellungstitel Das k. k. Nationalfabriksproduktenkabinett – Technik und Design des Biedermeier lautet? Und das wäre schade, handelt es sich doch bei der Ausstellung im Altonaer Museum um ein einmaliges Gastspiel einer ungewöhnlichen Sammlung. Vom Elfenbein-Zahnstocher bis zur Waldsamensortiermaschine sind über 700 Stücke aus dem Technischen Museum in Wien zu sehen. Das Museum kann wichtige Teile seiner Sammlung jetzt auf Reisen hierherschicken (nach Frankfurt und vor Prag und Budapest), da das Wiener Haus wegen Renovierung zur Zeit geschlossen ist.
„Ich habe beschloßen, in Wien in einem eigenen Kabinete gesamte innländische Fabriks und Manufakturprodukte aufstellen zu laßen, um dadurch jedermann in den Stand zu setzen, sich eine allgemeine Uibersicht dessen, was in Meinen Erbstaaten in diesen Fächern erzeugt wird, zu verschaffen . . .“ Dieses Handschreiben von Kaiser Franz I. begründete 1807 die Dokumentationssammlung. Bald schwoll sie auf 20.000 Ojekte an: Materialproben, Werkzeuge, Modelle und Fertigprodukte aus dem k. u. k.-Reich, das von Mailand bis zur Walachei, von Böhmen bis Venedig reichte (ohne Telefon und Fax). Und fast alle diese frühindustriellen Belege aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts sind erhalten – und Anlaß für viele kleine Geschichten, Mikrohistorie am Objekt.
So konnte die Herrenmode des Biedermeier den Hosenträger erst zum bevorzugten Accessoire machen, nachdem der erste mit Gummifäden durchsetzte elastische Hosenträger 1831 ein kaiserliches Privileg erhalten hatte und die Produktion auf jährlich 60.000 Stück gesteigert worden war. Unter Inventarnummer 36731 ist aus dem Jahr 1837 ein kleiner Behälter mit „gesponnenem Glas“ aus Ungarn registriert: damals nur schmückendes Artefakt, heute als Glasfaser für die Datenkommunikation genutzt. Da hat die Wiener Messing-Kaffeemaschine von 1839 die Form einer Dampflokomotive: nur wenige Jahre nach dem Bau der ersten Eisenbahn Zeichen höchster Fortschrittsgläubigkeit.
Zu bewundern sind auch manierierte Meisterstückchen wie der 165 Zentimeter lange Kamm aus ungarischem Horn. So stehen viele Objekte noch in einer Traditionskette zwischen Seltsamkeiten fürstlicher frühneuzeitlicher Wunderkammern, dem revolutionären Wunsch, die Welt enzyklopädisch zu erfassen, und den großen Weltausstellungen des kapitalistisch entwickelten Jahrhundertendes.
Mit einem an Surrealismus und moderner Kunst geschulten Blick faszinieren besonders die ornamental gestalteten Mustertafeln und funktionstüchtigen Miniaturmodelle. Doch immer wurde Wert auf die vollständige Dokumentation gelegt; häufig ist belegt, wie die Dinge gemacht wurden. Das ermöglicht dem Besucher den technischen Zugang genauso wie den ästhetischen. Hajo Schiff
Altonaer Museum, Museumstr. 23; bis 18. Februar.
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