: Der Faschismus im Hirn
Auf Einladung der taz und des Berliner Ensembles diskutierten Schüler mit Schauspielern über Werner Schwabs „Volksvernichtung“ ■ Von Margot Weber
Bucklig ist sie, verhärmt und abgearbeitet. Ihre großen Augen sezieren die kleine Welt, in der sie lebt, und vor ihrer harten, klaren Stimme gibt es kein Entrinnen: Frau Wurm, die ausgemergelte Pensionistin, deklamiert Werner Schwabs „Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos“. Carmen- Maja Antoni spielt die Wurm auf der Bühne des Berliner Ensembles: Als Sprechmaschine rezitiert sie die Schwabsche Kunstsprache, verfremdet sie. Der Gestus der Inszenierung Herbert Olschoks ist damit ziemlich nah dran am Gründervater Bert Brecht.
Das bemerken auch die 17 SchülerInnen der Gustav-Heinemann-Oberschule aus Marienfelde. Im Unterricht haben sie Kritiken gelesen und Nachrufe auf den Dramatiker, der 35jährig am Neujahrstag 1994 in Graz gestorben war. „Eine sehr artifizielle Darstellung war das“, meint einer von ihnen, als die Brecht-Gardine mit dem aufgemalten Hirn die zweistündige Vorstellung beendet.
Danach beginnt im Musikzimmer des BE eine engagierte Diskussion. Die 17 Jugendlichen und ihre Lehrer Jürgen Müller und Iris Parplies sitzen auf Fensterbänken, lehnen am Flügel, hocken auf dem Fußboden. Gekommen sind die Schauspieler Carmen-Maja Antoni und Manuel Soubeyrand, die Regieassistentin Margit Vestner und die Dramaturgen Stephan Wetzel und Jörg Mihan. Der kleine Raum ist mehr als voll, und je länger alle über Schwab und seine Sprache, über Spießbürger und Faschismus diskutieren, desto rauchgeschwängerter wird die Luft.
Zur Premiere im April 1992 sei Schwab nach Berlin gereist, sagt Mihan. Gefallen habe ihm die Inszenierung damals gar nicht, erinnern sich die Schauspieler. „Er war ja ein schwerer Trinker, hatte schon morgens bei der Generalprobe ein riesiges Glas Wodka in der Hand“, erzählen sie. „Bei der Premiere war er total breit und lallte dauernd ,Iss von mir, iss von mir!‘ in die Vorstellung rein.“
Ein halbes Jahr später sah Schwab die Vorstellung in nüchternem Zustand noch einmal – und war nun ganz zufrieden, „sagte nur, das sei ja Schwab auf Brechtisch“, erzählt Mihan. Was der Dichter damit gemeint habe, wollen die SchülerInnen wissen. „Wahrscheinlich die ausgestellte, minutiöse, undramatische Sprechweise, die überschaubare Inszenierung“, antwortet der Dramaturg.
Carmen-Maja Antoni hat ihre graue Bühnenkluft gegen Jeans und einen blauen Pulli eingetauscht, sitzt locker bei einem Schüler auf der Stuhllehne. Ob sie mit ihrer großen Bühnenerfahrung die Texte dieses jungen Dramatikers überhaupt schätze, fragt einer. „Was ich an Schwab toll finde, ist, daß der normale, alltägliche Faschismus in unseren Hirnen so gut getroffen ist“, antwortet sie. „Einen anderen einfach fertigmachen, in Grund und Boden stampfen – das ist die Sau, die wir uns nicht rauszulassen trauen.“
90 Minuten dauert das Treffen, und verlegenes Schweigen kommt erst gar nicht auf. Zahllose Fragen haben die SchülerInnen: Wie lernt man einen Schwab-Text? Ratschlag von Manuel Soubeyrand: wie eine Fremdsprache, erst die großen Zusammenhänge und dann Wort für Wort. Sollte man Schwab auch im Schultheater spielen? „Klar“, sagt Mihan und empfiehlt Schwabs „Unförmig“, da das leichter zu besetzen sei als die „Volksvernichtung“. „Und wenn ihr Premiere habt, müßt ihr uns unbedingt eine Einladung schicken“, verlangt Carmen-Maja Antoni. „Wir kommen bestimmt.“ Und das meint sie wirklich so. Margot Weber
Schultheater trifft das Berliner Ensemble. Informationen bei der taz unter 25902-264.
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