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Der Kronzeuge wurde inzwischen umgebracht

■ Einblicke in die Arbeit der Russen-Mafia: Vier wegen Entführung bereits verurteilte Russen stehen wegen des Raubs von drei Lastwagen vor Gericht

Die drei deutschen Spediteure, die im September 1992 sieben neuwertige PKWs der Marke Mercedes-Benz, etwa hundert Computer und eine Tonne Jeans von Deutschland nach Weißrußland brachten, waren vorsichtig. Als sie knapp 200 Kilometer hinter Brest nachts auf offener Straße von Uniformierten zum Halten aufgefordert wurden, fuhren sie weiter. Als etwa zehn Minuten später ein Uniformierter vor einem Verkehrskontrollposten die Haltekelle schwenkte, hielten sie. Doch der Uniformierte war kein Milizionär, sondern ein Räuber.

Der 35jährige Nikolai S. und die drei Mitangeklagten im Alter zwischen 31 und 38 Jahren, die seit gestern wegen schweren Raubes vor Gericht stehen, wollten nicht die Papiere kontrollieren, sondern die Ladung in ihren Besitz bringen.

Laut Staatsanwaltschaft wurden die deutschen Fahrer mit einer Pistole bedroht, gefesselt und mit Säcken über den Köpfen daran gehindert, die Gesichter der Gangster zu sehen. Doch Nikolai S., der einzige Angeklagte, der sich gestern aussagewillig zeigte und nach Angaben seines Anwaltes von den Mitangeklagten verbal bedroht werde, bestreitet dies. „Wir haben weder Säcke noch Handschellen gehabt, auch nicht geschlagen“, sagte Nikolai S., der sich in der psychiatrisch-neurologischen Abteilung der Justizvollzugsanstalt Tegel befindet.

Er hätte zwar eine scharfe Waffe dabeigehabt, aber nicht benötigt. „Ich habe niemanden bedroht“, sagte er, „unsere physische Kraft reichte aus, um mit denen zurechtzukommen.“ Im Wald hätten sie die sieben Personenwagen auf einen anderen Laster verladen, nach Moskau gebracht und mit neuen Papieren versehen. Doch nicht alle. Zwei PKWs wurden bei zwei Angeklagten in den häuslichen Garagen gefunden. Die zwei Lastwagen mit den Computern und Jeans seien zur Datsche eines Bekannten von Alexander N., dem Organisator des Coups, gebracht worden.

Der inzwischen in einem Moskauer Gefängnis ermordete Alexander N. galt als die „Nummer eins der Ljuberezkaja-Bande“, die der organisierten Kriminalität zugerechnet wird. Er entkam der Berliner Polizei wenige Tage nach seiner Festnahme im April 1993. Gefaßt wurde er nach der als Erpressung angelegten Geiselnahme von drei Angehörigen eines Exilrussen, der in Berlin einige Spielhallen betreibt.

Doch wenig später inhaftierte die Moskauer Polizei den 33jährigen, der wegen verschiedener Delikte gesucht wurde. Dabei gestand er überraschenderweise den Überfall in Weißrußland und benannte auch vier der Mittäter. Diese waren wegen der Entführung und versuchten Erpressung von zwei Millionen Mark Lösegeld in Berlin bereits zu Haftstrafen zwischen vier und neun Jahren verurteilt worden.

Der aussagebereite Nikolai S. bestritt gestern, daß der Überfall geplant gewesen sei. „Wir sind einfach so, auf blauen Dunst losgefahren“, wollte er dem Gericht weismachen. Der verstorbene Alexander N. habe gesagt, daß in Weißrußland „Mercedesse im Konvoi fahren, die man stehlen könnte“, sagte er. „Wenn es keine Mercedesse gegeben hätte, hätte es das Verbrechen nicht gegeben“, sagte er weiter.

Wie auch in dem Prozeß wegen der Entführung wurde der verstorbene Alexander N. als Drahtzieher angegeben. Nikolai S., der wie fast alle Angeklagten in Turnschuhen und Jogginghosen vor Gericht erschien, bestritt weitere Vorwürfe des Gerichts: den tödlichen Überfall auf einen Russen vor drei Jahren und eine Vergewaltigung in einem Züricher Hotel im Dezember 1992, bei der auch Alexander N. dabeigewesen sein soll.

Wäre es vor zwei Jahren nach der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung gegangen, wäre es gar nicht zu der jetzigen Anklage gekommen. Bei Aussagebereitschaft der vier Angeklagten sollte auf eine Anklage im Fall des LKW-Überfalls verzichtet und statt dessen zwei Jahre auf die Haftstrafen wegen der Entführung „draufgeschlagen“ werden.

Nachdem einer der Anwälte in einem Fernsehbeitrag von „Mauscheleien“ bei Gericht gesprochen hatte, wurde dann doch Anklage erhoben. Mit einem Urteil ist Mitte Februar zu rechnen. Barbara Bollwahn

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