: „Bald hatte jedes Dorf seinen eigenen Pele“
■ betr.: „Ende des Rausches, Anfang der Sucht“, taz vom 3. 1. 96
Als Spieler, aber auch als Zuschauer habe ich dem Fußball wirklich schöne Rauscherlebnisse zu verdanken. Wie alle Buben unseres Dorfes war auch ich Anfang der Sechziger begeisterter Fußballer. Einige wenige Radio- und Zeitungsberichte reichten aus, um aus uns oberschwäbischen Kickern begeisterte Brasilianer zu machen. Bald hatte jedes Dorf seinen eigenen Pele (von einer Betonung der zweiten Silbe wußten wir damals nichts). Der beste Spieler eines Dorfes ließ sich Pele rufen und verwandelte sich im Spielrausch auch in diesen farbigen Brasilianer. Im Fernsehen sahen die meisten von uns Pelé erst nach '64, als auf unseren Dörfern schon jahrelang unsere eigenen Peles zauberten (neben Garrinchas, Jaschins und Uwes).
Ich glaube kaum, daß eine Medienwelt, wie sie von Kirch & Konsorten gestaltet wird, auch nur annähernd in der Lage ist, unseren Kindern solche Rauscherlebnisse zu bescheren. Wenn ich heute im Fernsehen Fußball sehen will, dann hindern mich an einem Erlebnis die vielen Werbeunterbrechungen ebenso wie das stundenlange Geschwafel vor, während und nach dem Spiel, ganz besonders nervt mich die Unsitte mit den Co-Kommentatoren. Was wird einem da alles zugemutet: vom Klatsch über das Privatleben bis zu den obligatorischen Fragen an die Experten Kalli & Kaiser nach jedem zweiten Einwurf, von dummen penetranten Fragen an die Spieler (möglichst schon, wenn die Spieler noch unter Dampf stehen) bis hin zur 13. Wiederholung einer Aktion in Zeitlupe. Die Fußballshow „ran“ mit ihrem ständigen Wechsel zwischen Kick und Kommerz, Klatsch und Kritik, Kommen (der Moderatoren) und Klatschen auf Befehl unternimmt wirklich alles, damit die Faszination des Fußballspiels selbst kaum zur Wirkung kommen kann. [...] Herbert Wieland, Hüttisheim
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