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Architektur, als soziales Gefüge oder als soziale Skulptur ins Bild gerückt – die Architekturfilmreihe „film + arc gastiert ab heute in Berlin  ■ Von Richard Stradner

Graz ist, wie nicht nur österreichweit behauptet wird, eine Stadt der Architekten. Namen wie Volker Giencke, Ernst Gieselbrecht, Michael Szyszkowitz/Karla Kowalski, Bernhard Hafner oder Irmfried Windbichler stehen für ein progressives Architekturverständnis postmoderner Prägung, das seit über zehn Jahren unter dem Begriff „Grazer Schule“ international Beachtung findet. Entsprechend einsatz- und finanzwillig ist die Lobby, die sich hinter „film + arc“ verbirgt, der in Europa einzigartigen Biennale zur Erforschung der Zusammenhänge von Film und Architektur.

Das Festivalkonzept der Leiterin Charlotte Pöchhacker hält dabei mit den inhaltlichen Debatten des aktuellen Architektur- und Städtebaudiskurses (Schlagwort „Nicht-Orte“) auf praktischer Ebene Schritt. Zwar ist Graz die Basisstation, ein Teil des Programms wird jedoch auf Tournee geschickt: nach Berlin, Hamburg und Warschau, nach Finnland, Frankreich, Spanien und die USA – ganz im Sinn eines nomadischen Kultur- und Tauschverständnisses. Daß sich jetzt die zweite „film + arc“-Ausgabe den virtuellen Räumen zuwendet, unterstreicht den mobilen Multimedia- Touch des Unternehmens. Gegenüber diesem publikumsorientierten Konzept haben traditionelle Festivals eher Messecharakter.

Aber welches Publikum soll angesprochen werden? Die Architekturinteressenten kommen auf jeden Fall vor den Cineasten. So wählte in der Sektion „Internationaler Wettbewerb“ eine siebenköpfige Jury 47 Filme aus, die „kreative Formen der Auseinandersetzung mit gebauten Strukturen und deren ideologischen und ästhetischen Implikationen“ (Pöchhacker) aufweisen sollten. Das heißt: Man hortete alle Experimental-, Dokumentar- und Kurzfilme, die mit Architektur in Einklang zu bringen sind. Vier der prämierten Werke sind im Zeughaus zu sehen, darunter der mit dem ersten Preis ausgezeichnete documentaire d'auteur „Stadt der Steppen“ (Betacam, 1994) der Belgier Peter Bronsen und Odo Haltlants.

Mit soziographischer Akribie wird darin die Mongolei, eingezwängt zwischen planwirtschaftlichem Ruin und aufdämmerndem Kapitalismus, kapitelweise aufgefächert. Nacheinander behandelt er „Das Militär“, „Die Priester“, „Die Mütter“ etc. und montiert diese assoziativ. An den städtischen Randgebieten angesiedelt, entsteht so das absurde Profil eines Nomadenvolks, das zwischen den Baracken der Peripherie und dem ausgedorrten Steppenland keine Heimat mehr hat. Architektur kommt hier nur als beschädigtes soziales Gefüge ins Bild.

Auch in Mark Lewis' erstem „Two Impossible Films“ (Kanada 1995) wird das Augenmerk erst durch den Präsentationsrahmen auf den urbanen Hintergrund gelenkt. Aus rein filmischer Perspektive ist der rund zehnminütige „The Story of Psychoanalytics“ eine intelligente Verarschung der Vor- und Abspanngepflogenheiten im amerikanischen Mainstreamkino. Die starr positionierte Kamera konstatiert in zeitraffenden Überblendungen das „Tagesgeschehen“ rund um ein Denkmal in einem Park von Vancouver. Die zwischengeschnittenen Titel- und Nachspannsequenzen sind von gleichermaßen irrwitziger Länge und Skurrilität. Wer Sigmund Freud (der darin genannt wird) im Bild nicht entdecken kann, bekommt zumindest Einblick in das soziale Gefüge einer Großstadt vom Clochard bis zum Manager. Architektur als soziale Skulptur, die eine reale umgibt.

Thomas Herr von der Brotfabrik hat das ausgewählte Programm geschickt auf Berliner Verhältnisse abgestimmt. Während Dokus und Experimentalfilme aus dem Wettbewerb im Zeughaus gezeigt werden, sind in der Brotfabrik Tanzfilme zu sehen, darunter Peter Greenaways „Rosa“ nach einer Choreographie von Anna Teresa De Keersmaeker. Ebenso das selten gezeigte Werk des Stadtkritikers, Bildhauers und Filmemachers Gordon Matta-Clark sowie eine Acht-Millimeter-Reihe „über den Verfall ostdeutscher Städte vor der Wende“.

Im Deutschen Architektur- Zentrum können die Experten ganz unter sich sein, im Internet- Café ins Netz einsteigen und sich über elektronische Medien im Architekturbüro informieren. Im Gegensatz zum theorielastigen Grazer Symposion gibt man sich praxisbezogen. Die hier gezeigten TV- Produktionen (u.a. Reportagen über Tourismus- und Kunstwelten in den Rocky Mountains) vervollständigen diese Sektion.

Ein wunderbares Pendant zur „Stadt der Steppen“ bildet darin die Fernsehdoku „Virtually Las Vegas“ von Bernadette O'Brien, ein informativ ironischer Appendix aus städtebaulicher Perspektive zu Verhoevens Sex-City-Vegas in „Showgirls“. Fundiert belegt wird die Ausgangsthese, Las Vegas sei keine Stadt, vielmehr ein Film der Lucas/Spielberg-Productions. In Interviews mit Architekten, Kulturkritikern, Reklamedesignern, Hotel- und Casinomanagern entsteht das minutiöse Portrait einer Wüstenmetropole, das als Sinnbild der USA gelten kann: tiefste Oberfläche auf höchstem Kapitalniveau. Hier hat jede Kultur- und Architekturkritik ein Ende, da sie, in Riesenlettern auf das nächstbeste Casino geschlagen, niemand mehr bemerken würde. Eine Fassadenstadt ohne Tiefe, die dem kontinuierlichen Zeichenstrom als Monitor dient.

Filme bis 19.3. im Zeughauskino, bis 20.3. in der Brotfabrik. Im Architekturmuseum bis 18.3. Vorträge, Diskussionen und die Reihe „Architektur im TV“