Der Tunnel ist Selbstlähmung

Warum hat es keinen ernsthaften Widerstand gegen den Tiergartentunnel gegeben? Warum ist der Protest desertiert? Weil Politik auf der Ebene Stadt nicht gemacht und gedacht wird,  ■ meint Dieter Hoffmann-Axthelm

Der Anlaß schrie nach Widerstand. Am Tag der Grundsteinlegung für den Tiergartentunnel veranstalteten die Tunnelgegner eine Demonstration. Doch es war ein trauriges Spektakel, von einer demoralisierenden Harmlosigkeit, eine Demonstration der Abwesenheit. Gekommen waren Jugendliche, das, was man heute Kids nennt. Kam es polizeilicher Regelungen wegen zu einer Unterbrechung, setzten sie sich in kleinen Gruppen auf die Straße, es fehlten nur die Kerzen. Meine Generation, also über fünfzig, fehlte.

Es war ein Bild der gegenwärtigen Berliner Situation, aber, von heute aus gesehen, ein Negativ. Es bedurfte der Wahl und des schönen Durcheinanders danach, um das Negativ zu entwickeln. An jenem Abend sah ich nur, was gescheitert war – die Mobilisierung einer an sich vorhandenen politikerfahrenen Szene gegen ein die Zukunft der Stadt gefährdendes Großprojekt. Die Wahlerfahrung – weniger die Ergebnisse, als wie man inzwischen mit ihnen umgeht – war nötig, um aus dem Negativ die Umkehrung herauszusehen, den Schlüssel zu der Frage, wer, und unter welcher Bedingung, in Zukunft in Berlin politikfähig sein wird.

Bedrückend waren an jenem Oktoberabend weniger die kleine Zahl und die Abwesenheit jeden Übermuts. Bedrückend war die Abwesenheit der Politik. Die jungen Naturfreunde, Tier- und Baumschützer, sie waren gekommen. Vom Rest, allen denen, die in den letzten dreißig Jahren, mit oder ohne K-Gruppen-Ballast an den Beinen, in Berlin politisch als Linksalternative gelebt hatten und bei den unwahrscheinlichsten Gelegenheiten demonstrativ dabei waren, von diesem Potential war an jenem dunklen Herbstabend nichts zu sehen.

Natürlich ist der Tunnel auch ein Anschlag auf die innerstädtische Natur: nicht nur auf 2.500 gefällte Bäume, sondern längerfristig, angesichts der technischen Risiken, auch auf den Tiergarten, auf Baumbestand und Grundwasserverhältnisse insgesamt, ganz zu schweigen von der Verendgültigung der Verkehrsbelastung.

Aber das zentrale Problem ist politischer Natur. Mit dem Tiergartentunnel gibt sich die Stadt für nicht absehbare Zeit in die Hand der Tunnelbauer, ihrer technischen Zwänge, Finanzierungslöcher, Zeit- und Kostenüberschreitungen. Nicht nur, daß Geld, das in den Tunnel gesteckt wird, für dringendere Zwecke nicht zur Verfügung steht. Vor allem wird Berlin, unabhängig davon, wieviel es letztlich zahlen muß, vom Bund vollends abhängig und jedes eigenen finanziellen Gestaltungsspielraums beraubt. Der Tunnel ist die Spitze der bisherigen Berliner Politik der Selbstlähmung.

Diese Selbstlähmung wird in Kauf genommen für ein Technikerspielzeug, das im wesentlichen ideologischer Natur ist. Der Autotunnel ist verkehrstechnisch kontraproduktiv, und kein ernstzunehmender Fachmann wird sich so weit kompromittieren, das Gegenteil zu behaupten. Der Eisenbahntunnel pflegt die Ideologie eines europäischen Verkehrskreuzes, das weit über den realen Bedarfen und praktischen Reisebewegungen in den Wolken grafischer Schemata hängt, während eine technisch gleichwertige Lösung ungleich billiger durch Ausbau und Modernisierung der vorhandenen Anlagen zu haben ist.

Wo ist dann die politische Unangreifbarkeit des Tunnels begründet? Eben diese entscheidende Frage hilft das Berliner Wahlergebnis zu beantworten. Der Tiergartentunnel ist ein lehrreiches Beispiel, wie etwas, was zweifellos politikfähig ist, sich dem Politikwerden entzieht. Und umgekehrt, wie Parteien und Individuen, die Politik machen oder zumindest politisch reagieren wollen, brachliegen, weil das Problem nicht dort ist, wo sie hinzugreifen gewohnt sind. Man muß also die Frage, warum der Tunnel bislang nicht Politik geworden ist, umwenden in die andere, warum es der SPD einerseits, der Klientel der Grünen andererseits nicht gelingt, daraus Politik zu machen.

Das Wahlergebnis ist allgemein so gelesen worden, daß Berlin nach wie vor eine getrennte Stadt sei. Die Schwäche von CDU und SPD in den ostberliner Bezirken wäre dafür die Bestätigung. Man kann aber die Ergebnisse auch ganz anders lesen, vor allem angesichts der Art und Weise, wie jetzt mit ihnen politisch in den einzelnen Bezirken umgegangen wird, Spaltung, Zweiteilung liegt auch dann vor, aber an veränderter Stelle.

Es ist sinnvoll, die jetzige Vorherrschaft der PDS in den östlichen Bezirken als situationsbedingt, Ausweis von Ost-Identität, und damit provisorisch zu betrachten, also eher als Hinweis auf etwas, denn als die Sache selbst. Weiter muß man die knapp 40 Prozent Nichtwähler einbeziehen unter der Voraussetzung, daß die PDS ihr Potential voll realisieren konnte, die Nichtwähler also nicht die PDS, aber auch nicht die Westparteien SPD und CDU wählen wollten und zu den Bündnisgrünen (noch) kein Verhältnis fanden.

Liest man so, dann werden zwischen den Zeilen des Wahlergebnisses auch gesamtberliner Strukturen deutlich. Zuallererst ist erstaunlich, in welchem Maße sich in den ostberliner Bezirken die Bündnisgrünen konsolidiert haben, und zwar als solche, nicht als ehemalige Bürgerrechtler. Die städtisch strukturierten Viertel bilden das, was Christof Schaffelder im Scheinschlag den „grünen Ring“ nannte, analog zur berühmten historischen Pariser ceinture rouge.

Dieser Ring ist auffällig ost- west-symmetrisch. Ist im Osten die PDS stärkste Partei, so im Westen die CDU (mit Ausnahme von Kreuzberg). Auf den großenteils zugrundeliegenden alltagspraktischen Konservatismus gesehen, ist die Distanz ganz klein. Ferner ist er sowohl im Nordwesten wie im Südosten durchbrochen. Die Löcher akzentuieren, wenn man die Stadtstruktur (Sanierung bzw. Großtafel) hinzuzieht, gerade die Ringstruktur. Die Rücknahme im östlichen Friedrichshain zeichnet genau die ganze Tiefe der Innenstadt innerhalb des S-Bahn-Ringes ab, ebenso wie sich in Neukölln an den Ergebnissen der Gegensatz von Innenstadt und bisherigen Vororten klassisch abzeichnet.

Dieser Gegensatz zwischen inneren und äußeren Stadtvierteln überdeckt sich nun nicht zufällig mit einer horizontalen Scheidung in der inneren Topographie des politischen Bewußtseins – der Grundorientierung versprechenden Unterscheidung zwischen einer Politik von oben/klassischer Parteipolitik, und einer eher von unten her konzipierten, an ihrer Nähe zu Bewohnerinteressen gemessenen Politik.

Im früheren Westberlin waren Kreuzberg, Schöneberg, Tiergarten mit ihrem Bündnis von Grünen und aufgeschlossener SPD Randbezirke, die gegen die Flächenbezirke wie Steglitz, Reinickendorf oder Neukölln nicht ankamen. Die Neueinigung der Stadt hat sie wieder in die Mitte gerückt, und was bisher eine Sondersituation schien, beweist sich jetzt als avancierter Entwicklungsstand.

Was sich in der Berliner Innenstadt abzeichnet, ist also eine Art neubürgerlicher, kommunitärer Politik. Kompetenz und wirtschaftlicher Erfolg werden bejaht und honoriert, aber zugleich auch mit den Folgen für die eigene Lebensqualität konfrontiert. Politik wird nicht an Grundsätzen und Lagerzugehörigkeit, sondern an stadtstrukturellen Entscheidungen gemessen. In diese Politik des Einzelfalls passen gerade „grüne“ Inhalte, aufgrund des engen Zusammenhangs von Ökologie und Lebensqualität, gut hinein. Gegenüber Autolobbyismus und Konsumentenverhältnis der Peripheriebezirke zur Innenstadt, sind Verkehr und die Vertreibungsproblematik im Zentrum dauerhafte Konflikte, die dazu führen, daß die Innenbezirke auf eine Politik der intelligenten Verzahnungen drängen, die ihnen die Erfüllung beider Ziele – Wachstum wie Lebensqualität – erlauben. Da Umstrukturierung und Verkehr in Ost und West zunehmend gleich starke Konflikte sein werden, hat die Ost- West-Spaltung längerfristig keine Chance.

Entscheidend ist bei dieser sich abzeichnenden Neugruppierung städtischer Politik, daß es nicht auf diese oder jene Partei, sondern die Erfüllung eines spezifischen Politikstils ankommt. Parteiloyalität, Ausgrenzungs- und Unvereinbarkeitspolitik bringen in diesem Milieu nur Mißtrauen ein, Bündniswilligkeit wird honoriert. Die SPD als großpolitische Kompetenzpartei wird auf dieser Ebene nicht mehr gebraucht.

Eine Partei, die mit den Leuten reden kann, wie die PDS, hat hier also Chancen mitzuspielen, soweit sie glaubwürdig den Part der sozialen Aufmerksamkeit spielt. Umgekehrt degenerieren, für den kommunitären Gebrauch, CDU und SPD zu Klickschaltern politischer Fernsteuerung, sie werden gewählt in dem Maße, in dem der Wähler das Bedürfnis großpolitischer Steuerung oder Akzentuierung empfindet.

Diese horizontale Spaltung wird sich noch weiter akzentuieren, wenn die Fusion mit Brandenburg ansteht. Dann verschwindet das Land Berlin, während die freiwerdende Stelle unter einem kommunalpolitischen Schlüssel besetzt werden muß. Die Beendigung der bisherigen Vermengung von Landes- und Kommunalpolitik zwingt die einzelnen Parteien, Farbe zu bekennen: Was leisten, und vor allem, wie bewegen sie sich auf Ebene der Stadt Berlin, und wie verhalten sie sich auf Landesebene zu Stadtinteressen?

Die Grundlagen einer selbständig handlungsfähigen Politikidee sind im heutigen Berlin nicht vorhanden. Der Verweis auf die Vergangenheit behauptet keine Kontinuität, sondern die Wiederkehr einer Konfliktstruktur. Aber diese hat es möglicherweise an sich, aus dem subalternen grün-linken Milieu, für das ich hier eine kommunalpolitische Mehrheit behaupte, einen ernsthaften Reibungsfaktor zu machen, der unter dem Vergrößerungsglas der Hauptstadtsituation in bislang ungewohnter Weise bundespolitische Dynamik entfalten könnte.

Alle diese Zuweisungen stehen natürlich unter dem Vorbehalt, daß das gekennzeichnete Milieu auch seine Arbeit tut. Es muß seine Konflikte annehmen und in einer Weise politisch und medial produzieren, daß sie nicht einfach mehr durch die Großpolitik beiseite gedrückt werden können. Damit bin ich wieder beim Tiergartentunnel. Hier heißt es springen. Der Tunnel ist auf der Ebene parteienkritischer Thematisierung städtischer, kommunitärer Interessen für jetzt und die nächsten Jahre der entscheidende Probierstein, an dem man sich an- oder abmeldet. Ob das betreffende Milieu insgesamt, parteilich geredet Grüne und PDS, den Zug schon verpaßt hat, ist noch gar nicht zu sagen, es kann auch noch zu größten Überraschungen kommen.

Wer nicht warten kann, ist die SPD. Was die Wahl angeht, so ist der Tunnel für sie bereits zum Schicksalsfall geworden. Der vertikale Fall der Berliner SPD ist, behaupte ich, die Konsequenz ihres Ja zum Tunnel. Was ihr den Hals gebrochen hat, ist die grundsätzliche Unsicherheit hinsichtlich derjenigen Kriterien ihrer Politik, die ihre Existenzberechtigung ausmachen und bei Verletzung Koalitionsbruch verlangen. In der Tat war der einzige Gegenstand, der den Bruch getragen hätte, die Entscheidung über den Bau des Tiergartentunnels. Die Wahlniederlage war besiegelt, als es den SPD- Linken nicht gelang, sich gegen die regierende Macher-Fraktion durchzusetzen. Mit der Entscheidung, den Tunnel mitzutragen, gab die Berliner SPD den Löffel ab.

Nun gab es natürlich am Tag der Grundsteinlegung und Anti-Tunnel-Demonstration zwei große Abwesende – nicht nur die SPD, sondern auch das ganze historische Milieu, das die Basis der Grünen und in weiten Teilen auch des kommunitären Politikbündnisses stellt. Die Bündnisgrünen stellten sich als Partei gegen den Tunnelbau, aber ihre Basis desertierte. Wie erklärt sich diese merkwürdige Figur? Warum gelang es den Grünen nicht, ihre Klientel auf die Straße zu bringen? Die Antwort, daß die zu faul geworden sei, lieber italienische Kochrezepte ausprobiere und Politik die von ihr Gewählten machen lasse, überzeugt nicht.

Warum also? Die Bündnisgrünen haben Stellung bezogen, aber so auf die Richtigkeit von Argumenten fixiert, daß ihre Stellungnahme politisch nicht da war. Der Tunnel wird nicht von sich aus zum Thema. Es gibt keine unmittelbar Betroffenen, und ohne die Bäume wäre niemand, der sich angesprochen fühlt. Anders gesagt, der Tunnel ist in eine Ritze gefallen, einerseits in die Lücke zwischen Ost- und Westbezirken, zum andern in die Lücke zwischen den bewohnten und mit Mikropolitik besetzten Stadtgebieten überhaupt. Das ist der Unterschied zur Geschichte der Westtangente.

Aber auch bei der Frankfurter Startbahn West war kaum jemand unmittelbar betroffen, und doch kam es zu einer der stärksten Mobilisierungen der alten Bundesrepublik. Das verweist auf den entscheidenden Punkt: Der Tunnel liegt als Politikproblem auf einer Ebene, die zur Zeit nicht besetzt ist – die Ebene Stadt. Sie ist nicht besetzt, weil die zwei Städte sozial noch nicht wieder eine Stadt geworden sind, und weil es eine Stadtregierung, also eine Stelle für Kommunalpolitik, noch nicht gibt. Alle politische Handlungsfähigkeit ist in den Bezirken zwischengelagert, so daß der Tunnel zwischen den beiden Städten, zwischen Land und Bezirken, zwischen den Bezirken und zwischen Bezirk und ratlos privatisierenden Bewohnern im luftleeren Raum hängt.

Diese Bedingungen können und werden sich aber ändern, schon deshalb, weil das Zusammenwachsen weitergeht, weil die Fusion mit Brandenburg kommt, weil die Bundesregierung kommt. Das derzeitige Versagen des oben skizzierten Modells vor der Tunnelfrage ist darum kein Vorgriff auf die Zukunft, sondern hält die Option offen. Die Tunnelniederlage muß man auf die gegenwärtigen Bedingungen beziehen, nicht auf den Stadtzusammenhang, der zur Zeit im Entstehen ist.