piwik no script img

Für 494,44 Mark hinter Gitter

■ Unternehmer fordern Schutzrechte. Diese sollen ihnen nach der Pleite Offenbarungseid und Erzwingungshaft ersparen

Gehen Sie direkt ins Gefängnis. Gehen Sie nicht über „los“ – Wie beim Monopoly ist es auch im wahren Leben: Jörg Brauer ist kein Krimineller und kein politischer Straftäter, sondern sitzt wegen Schulden von 494,44 Mark hinter Gittern. Der 60jährige ist nämlich schlicht und einfach pleite. Seine Firma, für die er als Kleinunternehmer persönlich haftet, hat Konkurs anmelden müssen, und er kann von seinem Arbeitslosenhilfesatz die Schulden nicht mehr bezahlen. Deshalb sitzt er seit dem 5. März in der Haftanstalt Plötzensee in Erzwingungshaft.

Hinter Gitter gebracht hat den ehemaligen Existenzgründer nicht sein Schuldenberg von etwa 200.000 Mark, mit dem er beim Finanzamt, der AOK und den Banken in der Kreide steht. In Erzwingungshaft sitzt Brauer, weil er einer Firma 494 Mark und 44 Pfennig schuldet. Weil er sich geweigert hat, auf Antrag der betreffenden GmbH seine Vermögensverhältnisse mit einer eidesstattlichen Versicherung öffentlich darzulegen, leitete die Staatsanwaltschaft das Erzwingungsverfahren gegen ihn ein, um zu erreichen, daß Brauer entweder den geforderten Betrag zahlt oder sein Vermögen offenlegt.

Wie Brauers Firma gehen in Berlin jährlich weit über tausend Unternehmen in ein Konkursverfahren. 1.408 waren es nach Angaben des Statistischen Landesamtes 1994, ein Jahr später schon 1.648, und die Tendenz ist steigend. In Berlin wurden letztes Jahr sogar die ersten zwei Schuldnerberatungsstellen für Unternehmer in Deutschland eingerichtet. Bei der „JulaTeg“ in der Sprengelstraße in Wedding nutzten schon mehrere hundert gestrandete Unternehmer die Hilfeleistung der Beratungsstelle. Allein seit Januar diesen Jahres kamen sechzig Ratsuchende, wie Renate Verter, eine der beiden BeraterInnen der „JulaTeg“ berichtet: „Bei uns stehen Geschäftsführer und Besitzer aus allen Sparten an, Ost wie West. Auch aus GmbHs, aber am härtesten trifft ein Konkurs immer diejenigen, die mit ihrem persönlichen Vermögen für eine Firma haften, also meist kleine Selbständige und Existenzgründer.“

Auch die Beugehaft als letztes Mittel gegen Schuldner ist Verter bekannt. „Wegen 222 Mark wurde einer meiner Klienten letzten Sonntag in Erzwingungshaft genommen, wenn er jetzt seine Verhältnisse offenlegt, ist er ruiniert“, schildert sie einen Fall aus ihrem ganz normalen Alltag. Nach der Offenbarung gibt es für den Schuldner weder Konto noch Kredit. Um Existenzgründern das Schicksal von Brauer zu ersparen, hat sich in Berlin ein Verein gegründet, die „Vereinigung Selbständiger und persönlich haftender Unternehmer – Ausweg e.V.“. Dieser forderte gestern, die Zivilprozeßordnung um Schutzrechte für kleine Unternehmen zu erweitern. In dieser „Ordnung“ ist das Verfahren festgelegt, das Brauer gerade kennenlernt. Aber inzwischen ist auch Brauer einsichtig geworden. Am gestrigen Nachmittag legte er den Eid ab. Barbara Junge

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen