Cannes Cannes: Wo drücken die Schuh?
■ Frankreich gegen Hollywood: Das Filmfestival beginnt als Schlacht im Feuilleton
Erste Gerüchte machen die Runde. Volker Schlöndorffs „Der Unhold“ sei keineswegs, wie es in offiziellen Mitteilungen heißt, nicht rechtzeitig fertig geworden. Vielmehr habe Festivalleiter Gilles Jacob nach Sichtung des Rohschnitts zu Schlöndorff gesagt, „da müsse man wohl noch einiges dran machen. Und Filme haben wir hier an sich genug.“ Ein Kollege vom ORB kolportierte es mit Genugtuung; immerhin habe Schlöndorff das Projekt einem Ossi praktisch fertig aus den Fingern gerissen, von dem er jetzt nichts mehr wissen wolle, und überhaupt habe Schlöndorff neulich ihm, dem Kollegen, einen Schneidetermin in Babelsberg großkotzig verpatzt. All dies wird natürlich noch mit in die Fusionsdebatte eingeworfen, die immer wieder aufflammt, wenn (West-)Berliner und Brandenburger sich treffen, was erstaunlich häufig der Fall ist.
Je nachdem, wo die Magazine in der Frankreich-Hollywood- Schlacht stehen, werden die Stars des Festivals aufgebaut. Die französische Ausgabe von „premiere“ präsentiert die neunzehnjährige Liv Tyler („Silent Fall“, „Heavy“) in giftgrüner Flusenjacke, die Augen kirgisisch nach oben ziehend und die Fingernägel türkis angestrichen. Amerikanische Rock 'n' Roll-Legende. Sie spielt die Hauptrolle in Bernardo Bertoluccis „Stealing Beauty“, vor dem sich hier alle ein bißchen fürchten, und in dem es um die Suche nach Papa geht und wer das eigentlich ist. Da fügt es sich, daß Tyler zwar von Todd Rundgren und Bebe Buel aufgezogen wurde, aber kürzlich erfahren hat, daß in Wahrheit Steven Tyler (Aerosmith) ihr Erzeuger ist, worauf sie prompt einen Clip für Aerosmith drehte! Die Fotos aus dem Film erinnern ein bißchen an „Die blaue Lagune“, aber schließlich ist Filmkritiker sein einer der privilegiertesten Berufe überhaupt, und da nimmt man einen Bertolucci halt schon mal mit. Die Cahiers du cinema hingegen präsentieren ihre Cannes-Ausgabe mit drei französischen Aktricen, die alle nach Rohmer aussehen, also keinesfalls nach dem amerikanischen Konzept von „Starlett“, sondern rein, klassisch, klar. Im Cannes-Essay wird Gilles Jacob dafür kritisiert, daß er die Auswahl des Festivals als „Politique des pointures“ (wörtlich: Politik der Schuhabsätze; übertragen: man zieht sich den Schuh an, der einem paßt) bezeichnet hat. „Wir hier bei den Cahiers haben diese Politik schon lange kommen sehen, denn sie bestimmt längst das Kino der ganzen Welt. Nehmen wir den neuen Bertolucci: ,Stealing Beauty‘ ist ein italienischer Absatz de luxe, aber völlig ohne Charakter. Er ist zwar in der Toskana gedreht, einem der schönsten Landstriche der Welt, aber mit ,internationalem‘ Geld; er beschäftigt sich mit einer Reihe von Leuten aus der jet society und zeigt damit, daß die Luxusgüterindustrie große Tage vor sich hat.“ Auch der Eröffnungsfilm, der bei Redaktionsschluß dieser Ausgabe noch vor der ausländischen Presse liegt, Patrice Lecontes „Ridicule“, fällt unter dieses Verdikt: Das Kino heute ist zu beliebig (man zieht sich halt den Schuh an, der einem paßt), zu reich, hat zuwenig Lokalkolorit und ist damit ohne Charakter. Hätte man auf die Cahiers gehört, könnte überall Autorenkino herrschen! Die drei ungeschminkten Aktricen auf dem Titel nicken förmlich dazu.
Mein Hotel hingegen wird ausschließlich von Männern betrieben und zwar von solchen, die den (Sport-)Ereignissen des Tages gelassen entgegen sehen. Nur gegen Abend bekommt diese Gelassenheit Risse, und als ich nachts nach Hause kam, sah ich den Mann aus der Rezeption eine kleine Träne aus dem Augenwinkel wischen. Mariam Niroumand
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